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Der Poet der kleinen Dinge

Der Poet der kleinen Dinge

Titel: Der Poet der kleinen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
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Ich kapierte nichts, Stef hat mich am Ende damit aufgezogen. Er hat gemeint, sie würde mir die ganze Zeit Schifffahrtsflaggensignale schicken, Notrufe.
    Foxtrott-Kilo-Zulu.
    Bin manövrierunfähig / Möchte Verbindung aufnehmen / Benötige einen Schlepper.
    Das ist ein Code zwischen uns beiden, noch aus der Schulzeit, als wir Admiral werden wollten. Wir kannten die Signale und das Flaggenalphabet auswendig. Wir benutzten es, um Botschaften auszutauschen und unseren Lehrern Spitznamen zu geben.
    Die Englischlehrerin, die schwer hinkte, hieß Yankee, Ich treibe vor Anker . Den Direktor nannten wir Uniform, Ihnen droht Gefahr , und den Französischlehrer, der austeilte, wo er nur konnte, hatten wir Bravo getauft, Ich lade gefährliche Güter .
    Maïlys stand vor mir, die Schuhe durchgeweicht, die Haare angeklatscht wie bei einer Wasserleiche, das Gesicht ganz nass vom Regen und bald auch vor Kummer, das war abzusehen.
    Es liegt nicht an ihr, sie ist niedlich und nicht blöd, aber sie ist eben nicht Lola. Wie soll ich ihr das erklären?
    Sie hat eine Plastiktüte aus ihrer Tasche gezogen und mit ihrem schönsten Lächeln gesagt: »Du hast eben deinen Pulli vergessen.«
    Ich habe den Pullover aus der Tüte genommen und gesagt: »Oh, danke, total nett von dir!«
    Ich weiß, dass sie sich etwas anderes erhofft hat. Aber ich hab nichts Besseres zu bieten, sorry.
    Ich habe ihr Küsschen auf beide Wangen gegeben und bin schnell gegangen, um nicht zu sehen, wie sie sich langsam auflöste wie ein Stück Zucker in einer Pfütze.
    Warum ließ ich sie gehen? Warum dieses Quäntchen Gewissen, das noch zu schwer wog und mich daran hinderte, mit ihr zu vögeln?
    Und vor allem die große Frage: Warum gefiel sie mir denn nicht, diese Frau, wenn ich ihr doch gefiel?
    Wozu ist es gut, zu lieben, wenn es nicht auf Gegenseitigkeit beruht? Doch nur dazu, sich das Leben zu vermiesen.
    Sie wird jetzt allein und geknickt nach Hause gehen und sich in dem dünnen Top, das an ihren kleinen Brüsten klebt, einen Schnupfen holen. Und ich werde ganz in der Nähe weiter Trübsal blasen.
    Während wir uns doch ineinander hätten verknoten können, um ein Ganzes zu bilden, das widerstandsfähiger ist als die beiden Teile, aus denen es besteht.
    Der Zackenbarsch hat recht, wenn er sagt, dass das Leben nicht zweckmäßig ist.

 
    I ch habe mich und mein Herzweh weiter bis ins Zentrum geschleppt, um zu sehen, ob ein paar Kumpels in der Brasserie de la Gare rumhingen oder im Black Queen.
    Das sind die beiden einzigen Kneipen, in denen nach ein Uhr morgens noch ein bisschen was los ist.
    Das ist das Schöne an kleinen Provinzstädten: Nach Mitternacht trifft man auf der Straße nur noch Hunde und Katzen, die in Mülltonnen wühlen, und Typen, die zu besoffen sind, um nach Hause zu finden.
    Ich hatte das Bedürfnis, unter Leuten zu sein, mit jemandem zu reden, egal mit wem, und einen starken Kaffee zu trinken. Schließlich bin ich im Black gelandet. Da saßen noch zwei traurige Gestalten ganz hinten im Saal, gut abgefüllt, und hinter dem Aquarium ein altes Ehepaar, das sich halblaut zoffte.
    Der Alte sagte mit nicht besonders überzeugter Stimme zu seiner Frau: Ich werde dich verlassen, verstehst du? Versuch nicht, mich zurückzuhalten. Sie schaute ihn an, ohne mit der Wimper zu zucken, es schien ihr schnurzegal zu sein, und antwortete irgendetwas in der Art, dass sie es schon immer gewusst hätte.
    »Ich werde dich verlassen, verstehst du?«, wiederholte der Alte leise.
    Er sagte es immer wieder, in allen Tonlagen, und ich fand es nicht besonders toll, so plump darauf rumzureiten. Und sie, wie ein Papagei, antwortete jedes Mal, dass sie es schon immer gewusst hätte.
    Sie schienen unfähig zu sein, zu etwas anderem überzugehen.
    Ich habe mir gesagt, dass es doch todtraurig ist, sich so zu verlassen.
    Ich hatte nicht so richtig Lust, mich in ihrer Nähe an einen Tisch zu setzen, deshalb bin ich lieber an den Tresen gegangen.
    Und da habe ich ihn gesehen.
    Ich habe ihn sofort erkannt, an seiner Haltung, den Klamotten, an der Sweatshirtkapuze, die bis über die Augen hing. Er kehrte mir fast den Rücken zu und schaute auf den Fernseher, der in einer Ecke der Kneipe hing, es lief die Übertragung eines Fußballspiels. Er trank ein Bier.
    »Was darf’s sein?«, hat mich die Bedienung gefragt.
    »Äh … weiß nicht. Ein Espresso. Oder, nein: besser ein normaler Kaffee!«
    Als ich ihn gesehen habe, musste ich gleich wieder an den Typ auf der Karre denken. An

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