Der Poet der kleinen Dinge
diesen albtraummäßigen Anblick. In dem Moment hat er sich umgedreht und sich wieder gerade an den Tresen gesetzt. Anscheinend interessierte ihn das Fußballspiel nicht so brennend.
Unsere Blicke sind sich im Spiegel begegnet.
»Hallo«, habe ich gesagt.
Er hat den Blick von meinem Spiegelbild gelöst, sich langsam zu mir umgedreht und mit krächzender Stimme, als wäre er noch im Stimmbruch, geantwortet: »Hallo. Kennen wir uns?«
Ich saß kaum einen Meter von ihm entfernt, aber ich konnte sein Gesicht nicht gut erkennen, wegen der blöden Kapuze, die Schatten warf, und der mickrigen Beleuchtung, die sie seit ein paar Jahren in allen Bars anbringen, um eine gemütliche Atmosphäre zu schaffen und Irish Pub auf die Neonanzeige schreiben zu können. Ich sah nur sein Kinn, das glatt war wie ein Babypopo, die Piercings, die in seinen Augenbrauen aufblitzten, und seinen harten, finsteren Blick, der nicht gerade einladend wirkte. Ich habe gesagt: »Ich hab dich öfter vorbeigehen sehen.«
»Vorbeigehen?«
»Am anderen Kanalufer.«
»Ach, ja, stimmt. Jetzt erkenne ich dich wieder.«
Schweigen.
Es war irgendetwas Unheimliches an ihm. Dabei habe ich eigentlich keine Angst vor Jugendlichen, vor allem wenn sie allein und kleiner sind als ich. Er schien nicht unter Acid zu stehen oder sonst irgendwie gefährlich zu sein. Nein. Da war nur irgendetwas Komisches, das ich nicht durchschaute. Aber ich tauchte andererseits auch gerade erst aus einem Vollrausch auf, nachdem ich einen beschissenen Abend lang meiner Ex dabei zuschauen durfte, wie sie mit einem Möchtegern-Brad-Pitt Händchen hielt. Da war es sicher normal, dass mir nichts glasklar erschien.
Ich musste wohl zum Abschluss des Tages noch das Bedürfnis nach einer Faust in der Fresse haben, denn ich habe mich gehört, wie ich plump fragte: »Wer war denn der Typ, den du neulich dabeihattest?«
»…«
»Der Typ auf der Karre, weißt du nicht mehr? Ist das dein Bruder?«
Er hat ein genervtes Zungenschnalzen von sich gegeben. »Hör zu, wir machen einen Deal: Ich bezahl dir deinen Kaffee, und du vergisst mich, okay?«
Mir blieb die Spucke weg. Ich ließ mich von so einem kleinen Scheißer abservieren und saß da, ohne irgendwas zu tun?
Klar, was sonst? Es war eben so ein Tag, an dem jeder auf mir herumtrampelte. Tiefer konnte ich nicht mehr fallen. Ich habe gesagt: »Entschuldige, ich wollte mich nicht einmischen … Geht mich ja nichts an. Vergiss es einfach!«
Er hat kurz gelächelt und dann etwas weniger schroff gemeint: »Er heißt Gérard. Und er ist nicht mein Bruder.«
Da habe ich ihm die Hand hingestreckt, ich weiß nicht, warum: »Cédric.«
Er hat mich zwei Sekunden lang mit einem Laserblick seziert, dann hat er geantwortet: »Ich bin Alex.«
Er hatte noch eine Kinderhand, klein und länglich, mit sehr zarten Fingern.
Er hat gesagt: »Tschüss dann, ich geh schlafen. Ich muss morgen früh arbeiten.«
»Ja, ich auch. Ich meine, ich gehe auch heim. Ich hab zur Zeit keinen Job. Wo arbeitest du?«
»In der Coopav.«
»Ach, bei den Hühnern?«
»Ja. Tschüss.«
Er hat die beiden Getränke bezahlt, ohne mich anzuschauen. Ich weiß nicht, warum. Ich weiß nicht einmal, ob er mein »Danke« gehört hat. Er sah aus, als wäre ihm alles egal. Er hat sich die Kapuze noch tiefer in die Stirn gezogen und ist durch die Tür hinaus, ich habe ihm nachgeschaut. Vor dem Bahnhof ist er links abgebogen und in Richtung Brücke gegangen. Draußen goss es in Strömen.
Ich hörte den Regen nicht, wegen der Claude-François-CD, die weiterlief, aber ich konnte dicke Tropfen aus der Regenrinne runterklatschen sehen. Zur Abwechslung mal ein Scheißwetter.
Eines Tages werde ich im Süden leben, wenn ich nicht vorher vermodere.
Ich habe in Ruhe meinen Kaffee getrunken.
Die junge Frau hinterm Tresen gähnte, dass sie sich fast den Kiefer ausrenkte, sie wirkte völlig fertig, rote Augen mit braunen Ringen drunter, ein kleines Gesichtchen, so zerknittert wie ein Kopfkissenbezug nach einer schlaflosen Nacht. Sie hat mich angelächelt und versucht, ein bisschen mit mir zu scherzen, aber sie war nicht bei der Sache, ich auch nicht.
Die beiden Säufer, die ganz hinten saßen, sind gegangen. In der Tür haben sie fröhlich gegrölt: »Wiedersehen, Lulu, bis bald!«
Die Frau hat ihnen zugezwinkert und geantwortet: »Schönen Abend noch, kommt trocken nach Hause!«
Dann ist sie nach hinten gegangen, um ihre Gläser abzuräumen und den Tisch abzuwischen.
Das Ehepaar sagte
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