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Der Poet der kleinen Dinge

Der Poet der kleinen Dinge

Titel: Der Poet der kleinen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
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kleiner. Wie ein Bonsai des Zackenbarschs.

 
    A lex hat mich ein Stück begleitet. Sie hat sich eine ihrer kleinen Zigaretten gedreht und mir auch eine. Auf der Place Gambetta haben wir uns einen Moment auf eine Bank gesetzt.
    »Wie alt bist du noch mal?«, hat Alex gefragt.
    »Achtundzwanzig.«
    »Und was würdest du gern machen? Im Leben, meine ich.«
    Ich habe ihr gesagt, dass genau das mein Problem wäre: Nicht zu wissen, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. »Du verstehst das sicher nicht: Du machst, was du willst, du brauchst niemanden.«
    Sie hat das Gesicht verzogen und gemeint, ihrer Ansicht nach gäbe es das nicht, Leute, »die niemanden brauchen«. Manche wären unabhängiger als andere, klar. Aber man könnte nicht ein Leben lang allein bleiben, das wäre zu hart. Sie hat gesagt, man bräuchte Freunde, Liebste, eine Familie, eine Katze, einen Hund.
    Irgendjemanden.
    Sie schien zu wissen, wovon sie redete.
    Da habe ich mir gesagt, dass ihre Art, durchs Leben zu gehen, vielleicht doch nicht nur Vorteile hat. »Und hast du irgendjemanden?«
    Sie hat eine undeutliche Handbewegung gemacht. »Mehr oder weniger.«
    Und dann, mit einem kurzen Lachen: »Eigentlich eher weniger! Und du?«
    Ich habe ihr von Lola erzählt.
    Ich glaube, ich bin nicht mehr ganz dicht: Ich erzähle aller Welt von ihr, ich bin total besessen.
    Alex hat mir nichts geraten. Sie hat keine Banalitäten abgelassen über das Leben, die Liebe und all so was. Glück, Schmerz …
    Sie hat mir einfach nur zugehört, und das hat gutgetan.

Schnabelhiebe
    H eute Morgen bin ich ins Personalbüro bestellt worden.
    Die Personalchefin ist eine hübsche Frau um die vierzig, lässig-sportlich-schick, ohne zu übertreiben. Sympathisch. Sie hat mich gebeten, mich zu setzen, um mir mit sanfter, mütterlicher Stimme und einem Hauch Bedauern im Gesicht mitzuteilen, dass mein Zeitvertrag nicht verlängert wird.
    »Sie sind kompetent, Mademoiselle Allery, es ist nicht Ihretwegen, ich habe ausschließlich positive Rückmeldungen über Ihre Arbeit bekommen, aber wir werden in den nächsten sechs bis acht Monaten keine Zeitverträge mehr verlängern. Sie wissen ja, dass wir in Anbetracht der Lage nicht darum herumkommen, bis Ende nächsten Jahres sehr spürbar Stellen zu streichen …«
    Wie oft würde sie diesen Satz wohl noch wiederholen müssen, um verängstigten Frauen und Männern zu erklären, dass die guten Zeiten vorbei waren, dass das, was sie für ein Galeerensklavenleben hielten, das Paradies war im Vergleich zu dem, was sie jetzt erwartete?
    Wie viele Leute würden in ihrem Büro oder draußen auf dem Gang von einem gerechten Zorn, von einer sehr spürbaren Verzweiflung ergriffen werden?
    Sie muss meine Gleichgültigkeit für Niedergeschlagenheit gehalten haben, denn sie setzte noch ein paar hohle, aber gutgemeinte Worte hinzu, bevor sie mich zur Tür brachte: »Ich weiß, dass es schwierig ist, Mademoiselle Allery. Machen Sie eine kleine Pause, holen Sie sich am Automaten einen Kaffee, die Zeit wird Ihnen nicht abgezogen, keine Sorge.«
    In der Brüterei kamen die anderen Frauen sofort auf mich zu. »Na, alles klar? Was hat sie dir gesagt?« Und dann: »Nicht zu enttäuscht? Weißt du, wo du jetzt hingehen wirst?«
    Alles andere als Überraschung in ihren Stimmen.
    Hier weiß man genau, was so eine Vorladung bedeutet. Zeitverträge werden nicht verlängert, man trennt sich von den Schwächsten. Kündigungen mit bescheidenen Abfindungen, vorzeitige Ruhestände.
    Man stutzt und beschneidet, weiter und weiter, immer dichter hin zum Stamm. Auf dem Rasen verfaulen die Blätter und Zweige, die der Wind schon ein paar Wochen früher heruntergerissen hat – der Sturm ist schuld, der unsere Welt durchschüttelt.
    Schlechte Zeiten, schlechtes Klima.
    Aus ihren glasigen Augen sprach besorgte Neugier. Morgen, übermorgen würden sie an der Reihe sein. Und ich traute mich nicht, ihnen zu sagen, dass es mir völlig egal war. Ich wäre sowieso irgendwann gegangen.
    Aber zum ersten Mal schämte ich mich für diese Leichtigkeit, weil ich wusste, wie unerträglich die gleiche Aussicht für die meisten von ihnen wäre.
    Ich würde mich zu neuen Ufern aufmachen, und die Vorstellung gefiel mir.
    Als ich dann aber nach Hause kam und Roswell vor der Tür sitzen sah, auf dem alten Plastiksessel, den Marlène ihm gnädigerweise überlassen hat – weil die richtigen Stühle, »Nee, das kostet ja ein Schweinegeld, wenn man die neu bespannen muss« –, als ich sah,

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