Der Poet der kleinen Dinge
Bedingungen, um ins Arbeitsleben zu starten, aber deswegen könnte man trotzdem einen Job finden, solange man keine unmöglichen Ansprüche hätte.
»Du hast zwei Arme, zwei Beine, du bist gesund. Glaub mir, dieses Glück hat nicht jeder. Und das reicht, um arbeiten zu gehen.«
Mein Vater hat immer auf dem Bau geschuftet. Arbeitslosigkeit kennt er nicht. Für ihn sind alle, die nicht arbeiten gehen, Faulpelze, Nichtsnutze, weil wenn sie wollten, würden sie auch was finden … Ich kenne seinen Standpunkt auswendig: »In der Not ist man nicht wählerisch. Egal, wie die Arbeit aussieht, es ist Arbeit. Man nimmt sie und basta.«
Für ihn ist das Leben schwarz oder weiß. Grau ist ihm zu verwaschen, unnötig kompliziert.
Ich habe geschwiegen.
Was würde es nützen, ihm zu sagen, dass ich nicht so bin wie er und dass ich andere Träume habe? Wie sollte ich ihm erklären, dass ich von dem bisschen Zeit, das sowieso viel zu schnell vorbeirauscht, noch was haben will? Dass ich nicht warten will, bis ich siebzig bin, ein künstliches Gebiss und Rheuma habe, um endlich anzufangen zu leben?
Ich habe keine Angst vorm Arbeiten, sondern davor, fünf Tage in der Woche auf den Samstag zu warten. Und am Sonntag ein langes Gesicht zu ziehen, weil dann wieder der Montag ansteht. So wie die meisten Leute, die ich kenne und die ich kein bisschen beneide, ganz egal wie viel sie verdienen.
Ich möchte endlich herausfinden, was ich machen will. Es schaffen. Und stolz darauf sein.
Ich habe Angst, dass mir sonst vor lauter Geldranschaffen das Leben flöten geht.
Mein Vater würde das alles nicht verstehen, das weiß ich. Er hat sich sein Leben lang abgerackert, um die Miete zu bezahlen, die Kredite abzustottern, unsere Ausbildung zu finanzieren. Er hat sich den Rücken kaputt gemacht, ohne je an sich selbst zu denken, ohne sich irgendetwas zu gönnen, und ich bin ihm nicht einmal dankbar, wenn ich es recht bedenke. Ich finde es sogar ziemlich bescheuert, ehrlich gesagt. Man hat nur dieses eine Leben, und das kann man nur selbst leben. Was hat man von dem Gefühl, seine Pflicht getan zu haben, wenn es aufs Ende zu geht? Ist es wenigstens ein Trost für alles, was man verpasst und verpatzt hat?
Er hat für uns gelebt, er hat sich aufgeopfert, aber wie soll man ihm das vergelten? Ich habe keine Tage übrig, die ich ihm schenken könnte. Ich kann es ihm nicht zurückzahlen.
Er wird älter, er ist fast schon ein alter Mann. Der Countdown läuft.
Neben meinem Vater fühle ich mich immer ein bisschen als Versager. Weil ich nicht seine Tapferkeit habe – oder seine Ergebenheit, was weiß ich –, weil ich nicht bereit bin, jeden Job anzunehmen, nur weil ich »zwei Arme, zwei Beine habe und gesund bin …« und weil ein echter Mann eben arbeitet.
Wir leben einfach nicht in der gleichen Welt, er und ich. Deshalb hatte ich keine Lust, mit ihm darüber zu diskutieren.
Also haben wir eine Weile angestrengt geschwiegen. Er trank in kleinen Schlucken. Er nimmt sich immer Zeit beim Essen und Trinken. Da ist er sehr langsam.
Ich hatte meinen Espresso längst ausgetrunken.
Er hat aufgeblickt, sein Glas abgestellt und gefragt: »Und wie geht’s dir sonst so?«, als wären wir alte Kumpels, die sich zwanzig oder dreißig Jahre nicht gesehen haben. Ich hätte fast mit den Achseln gezuckt und geantwortet: »Prima, und dir?« Aber da habe ich mich sagen hören: »Lola ist schwanger. Von ihrem neuen Freund.«
Warum sagte ich das, verdammt?!
Er hat nicht gleich geantwortet, sondern in sein Glas geschaut. Er sah aus, als wäre es ihm peinlich. Und ich hätte am liebsten mit dem Kaffeelöffel Harakiri gemacht.
Ich konnte fast hören, wie er nachdachte. Ich wusste, dass er nach dem richtigen Angriffswinkel suchte, als wäre ich eine Mauer mit Fundamentproblemen, eine schiefe Wand. Er war wohl am Berechnen, wo er Stützbalken anbringen müsste, um diese verdammte Bruchbude zu sichern, bevor es zu spät war und alles zusammenkrachte.
Schließlich hat er hochgeguckt. »Macht dich das unglücklich?«
Ich war auf alles gefasst, auf seine übliche Gleichgültigkeit, auf einen seiner blöden Kneipensprüche, »Tja, so ist das Leben, was will man da machen?«, »Andere Mütter haben auch schöne Töchter«, oder meinetwegen, dass er mir den Kopf wusch: »Du hättest sie eben behalten müssen, Idiot!«
Ich war auf alles gefasst, nur nicht darauf.
Nicht auf diese Frage, nicht auf diesen Blick, der zu sagen schien: »Ich würde gern meine Pranke auf
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