Der Poet der kleinen Dinge
hat sie sich schließlich entspannt und ist damit herausgerückt, dass sie dreißig ist, was mich total geplättet hat, weil man ihr das überhaupt nicht ansieht. Das habe ich ihr auch gesagt.
Sie hat gelacht und gemeint, das würde an der Tatsache selbst nichts ändern.
Sie hat mir in Kurzfassung ihr Leben erzählt. Sie wird bald wieder weggehen von hier. Sie hat von ihren Reisen erzählt, von den verschiedenen Jobs, die sie schon gemacht hat. Ich habe mir gesagt, dass ich nie so leben könnte wie sie: eine Bahn- oder Busfahrkarte kaufen, den Finger auf die Landkarte legen und auf gut Glück losziehen. Sie hat mich an Rahan erinnert. Das ist eine Zeichentrickserie, die ich als Kind geliebt habe, über einen Superhelden aus der Vorzeit, einen blonden Muskelprotz mit Fellschurz, glatter Brust und einer Haut wie ein Babypopo. Wenn dieser Rahan nicht wusste, wohin er gehen sollte, ließ er sein Messer auf einem Stein drehen, und dann marschierte er in die Richtung, wo die Messerspitze hinzeigte. Das fand ich irre. Aber wenn ich versuchte, es mit einem Küchenmesser nachzumachen, dann zeigte die Klinge entweder auf die Wand zum Wohnzimmer, auf die Tür zum Wandschrank oder auf die zum Klo.
Das war für ein Abenteuer eher popelig.
Seit achtundzwanzig Jahren träume ich Tag für Tag davon, hier abzuhauen, aber es ist wie mit dem Rauchen: Morgen höre ich auf, morgen gehe ich weg.
Morgen fange ich an zu leben. Immer morgen, morgen, nur nicht heute …
N ach einer Weile hat sich Alex mit der Karre auf den Heimweg gemacht. Gérard war froh und der Zackenbarsch auch. Ich fühlte mich mittelmäßig. Weder traurig noch glücklich.
Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem.
Der Zackenbarsch wollte im Black Queen einen Zwischenstopp einlegen, um sich nach dem ganzen Kronenbourg mit einem Guinness den Mund zu spülen. Ich habe ihn begleitet, mich aber an der Tür verabschiedet und bin nach Hause gegangen.
Ich hatte keine Lust zu trinken, und ich hatte meinem Vater versprochen, früh nach Hause zu kommen, um ihm zu helfen. An einem Samstag im Monat ist Sperrmüll, und ich sollte ihm helfen, die Spülmaschine vor die Tür zu stellen, die nach zwölf Jahren schäumend den Geist aufgegeben hatte. Diese Scheißdinger wiegen eine Tonne. Nirgendwo ein Griff zum Anpacken. Wir haben uns ganz schön abgeplagt, mein Vater und ich, um sie die vier Stockwerke runterzuwuchten.
Ich habe mir gesagt: Wenn ich die Wahl hätte zwischen verschiedenen Sträflingsarbeiten, würde ich auf keinen Fall den Möbelpacker nehmen, da ruiniert man sich total den Rücken. Ich muss laut gedacht haben, oder mein Vater kann Gedanken lesen – als wir nämlich unten auf dem Gehweg standen, hat er mich auf einmal gefragt: »Und? Wie sieht es aus mit Arbeit? Wann fängst du an, dir was zu suchen?«
Ein schlauer Fuchs, der Alte; er hatte mich nach unten gelockt, weit weg von den Ohren und den beschützenden Fittichen meiner Mutter: Nun lass doch den Jungen in Ruhe, meinst du vielleicht, dass es einfach ist …?
Drei Tage vorher hatten wir uns auch schon gezofft, er und ich. Wenn er vorhatte, mir jetzt bei jeder Gelegenheit auf den Senkel zu gehen, würde ich durchdrehen, so viel war klar.
Ich habe mich verschlossen wie eine Auster.
Da hat er gemeint: »Los, komm, wir gehen was trinken!«
Wir sind ins Prolétaire gegangen, Espresso für mich, Picon-Bier für ihn.
Es war das erste Mal in meinem Leben, dass wir zusammen in einer Kneipe waren. Ich fand es peinlich, anderswo als zu Hause mit ihm an einem Tisch zu sitzen. Es war das gleiche Gefühl wie damals, als meine Mutter mich noch in der sechsten Klasse unbedingt von der Schule abholen wollte.
»Ist schon gut, Mama, ich komme allein nach Hause, du brauchst mich nicht abzuholen!«
»Ach was, mein Großer, das mache ich doch gern!«
Ich sagte ihr, sie solle vor der Apotheke warten statt vor dem Schultor, angeblich damit sie mich im Gewühl nicht verpasste.
Was hatte ich Schiss, dass meine Freunde mich mit ihr sehen könnten …
Nach den ersten Schlucken ist mein Vater auf die Jobfrage zurückgekommen. War ja klar. Er ist wie eine Zecke. Man müsste ihn mit Äther tränken oder ihm den Kopf abschneiden, damit er loslässt.
»Hast du jetzt was gefunden oder nicht?«
Man könnte glauben, für ihn gibt es nichts anderes auf der Welt, was zählt.
Ich habe gesagt, nein, und ich habe wiederholt, warum: Arbeitslosigkeit, Entlassungen, Krise.
Krise.
Er hat gemeint, okay, das wären keine idealen
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