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Der Poet der kleinen Dinge

Der Poet der kleinen Dinge

Titel: Der Poet der kleinen Dinge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie-Sabine Roger
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man sie vergisst, und wenn wir die Tür zumachen, ist es, als wären wir allein auf der Welt. Kaan hat ein weiches Gemüt und so sanfte Augen. Er möchte, dass ich bleibe. Er wird eine schöne Seite in meinem virtuellen Fotoalbum bekommen. Ich habe ihn übrigens mehrmals fotografiert. Das ist selten. Ich fotografiere fast nie Leute, die ich kenne. Und schon gar nicht die, die ich liebe.
    Ich habe Angst, sie für immer zu fixieren, sie nicht mehr anders sehen zu können als erstarrt, eingesperrt in diesem einen Moment und mit einem Ausdruck, der ihnen fremd ist. Ich mache lieber Aufnahmen von Landschaften in der Abenddämmerung und von Städten bei Nacht. Oder Porträts von Unbekannten.
    Fotografin, das hätte mir gefallen. Ich habe ein paar tausend Fotos. Oft sage ich mir, dass es sinnlos ist, dass ich sie wahrscheinlich nie wieder anschauen werde.
    Aber das ist nicht schlimm: Ich habe sie.
    Ich habe auch Roswell fotografiert. In seinem Zimmer, mit nachdenklichem Blick im Sessel sitzend. Im Gegenlicht vor dem Fenster, bei Einbruch der Dunkelheit. Und auf seiner Karre, die Mütze tief in die Stirn gezogen, in seine Decke gewickelt, wie eine dicke Raupe in einem Wollkokon.

 
    M arlène schien einen guten Tag zu haben. Einen freundlichen Tag.
    Das gibt es.
    Ich hatte mich draußen auf meinen Schlafsack gelegt, im Schatten eines Apfelbaums, um mein Buch zu Ende zu lesen. Sie saß am Gartentisch und nähte einen Knopf an. Plötzlich hat sie den Kopf gehoben: »Ich hab dir noch nie mein Schlafzimmer gezeigt, oder?«
    Sie hat mich das in einem feierlichen Ton gefragt, als ginge es um ein Privileg, um eine Führung ins Boudoir der Königin. Sie sagt immer » mein Schlafzimmer«, auch wenn Bertrand dabei ist.
    Mein Haus , mein Garten , meine Küche . Dein Bruder .
    Ich habe von meinem Buch aufgeblickt. Es traf sich gut, ich hatte gerade die letzte Zeile gelesen.
    »Mein Schlafzimmer! Das hast du noch nie gesehen!«
    »Nein, noch nie«, habe ich geantwortet und interessiert getan.
    Ich hatte auch einen guten Tag. Ich war versöhnlich gestimmt.
    »Hättest du Lust?«
    Ich hatte nichts Dringenderes zu tun. Also bin ich ihr gefolgt.
    Ihr Schlafzimmer liegt im Erdgeschoss, ganz am Ende des Flurs, hinter dem Bad. Sie hat mich vorsichtig in ihr Reich treten lassen, das sorgfältig aufgeräumt war. Ein Bettüberwurf aus rosa Chenille mit zwei dicken Kissen in Bezügen aus dem gleichen Stoff, zwei Nachttischchen, eine furnierte Kommode, ein Samtsessel, zwei Stühle. Ein großer Spiegelschrank direkt gegenüber vom Bett. Und an den Wänden überall Zeichnungen. Ein paar Berglandschaften, eine Porträtgalerie, alles in Bleistift. Stellenweise war die Tapete gar nicht mehr zu sehen.
    »Hast du das alles selbst gemacht?«
    Sie hat genickt, mit einem bescheidenen und zufriedenen Lächeln.
    Sie hat mir gesagt, das Zeichnen wäre ihre Leidenschaft, schon immer gewesen. Neben der Berufung zum Topmodel hätte sie das im Blut, von klein auf.
    »In der Schule war ich die Beste! Die Lehrerin hängte meine Bilder immer auf. Meine Mutter erzählte allen Leuten, ich wäre die Künstlerin in der Familie.«
    Sie war wieder acht Jahre alt. Ich sah in ihren Augen die Vergangenheit leuchten, den Stolz ihrer Mutter, die an die Wand gepinnten Zeichnungen, die in der Schule ausgehängten Bewertungen:
    Dritte Klasse / Zeichnen
    Erste: Marlène Dachignies
    Zweite: …
    Ich habe mir die Porträts der Reihe nach angeschaut. Lauter Berühmtheiten aus dem Showgeschäft, Schauspieler, Sänger. Bei einigen war die Ähnlichkeit deutlich, andere erinnerten irgendwie an irgendwen. Ein großes Porträt, durch einen verschnörkelten Holzrahmen zur Geltung gebracht, thronte über der Kommode.
    »Äh … das ist Michel Sardou, oder?«
    Ich hatte meine Vermutung als Frage formuliert, für alle Fälle. Aber Marlène strahlte sofort.
    »Na klar! Wer denn sonst? Hast du gesehen, wie schön er ist? Ich habe ihn von einem Foto abgezeichnet, mit einem Raster. Sechsundvierzig Stunden habe ich gebraucht. Ich habe ihn sogar im Gemeindesaal gezeigt, bei der Ausstellung der Künstler und Kunstfreunde vor drei Jahren. Alle haben mich beglückwünscht.«
    »Ich habe dich noch nie zeichnen sehen, seit ich hier bin.«
    »Weil ich es nicht mag, wenn man mir zuschaut. Nicht einmal Bertrand darf das.«
    Bertrand durfte nicht viel, das war nichts Neues.
    »Warum hängst du sie nicht woanders auf? In deinem Wohnzimmer? Im Hauseingang?«
    Sie hat nachgedacht und dabei an ihren Vorhängen

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