Der Portwein-Erbe
Verschwendungssucht
und Champagnerfröhlichkeit, wie sie früher den ungarischen Operetten vorbehalten war, mit tierischem Ernst zur Maxime richtigen
Lebens erhoben wird.« Da hatte Theodor W. Adorno bereits 1951 die Spaßgesellschaft vorausgesehen. Nicolas versank ins Grübeln.
Er hatte was zum Denken gefunden, etwas, um sich in seiner zukünftigen Aufgabe als Wein- und damit Lustfabrikant infrage zu
stellen. Er spürte, dass er nach Argumenten suchte, für oder gegen die endgültige Übernahme der Quinta. Wenn es ihm egal war,
was sein Vater mit dem Konzern machte, konnte es ihm doch genauso egal sein, ob dessen Bruder ihm die Kellerei vermachte.
Aber das war es nicht. Er wagte es kaum zu denken. Er fühlte sich von der Erbschaft geehrt. Es war kein Stolz, aber er nahm
die Befriedigung darüber wahr. Allerdings – wenn er, Nicolas, sich entscheiden würde, Winzer zu werden, wo würden dann seine
Ideen von Architektur, von Gestaltung, von lebendigen Räumen bleiben? Wo würde er selbst bleiben? Friedrich war es allem Anschein
nach gelungen, er selbst zu bleiben, wenn Nicolas die vielen Bücher betrachtete. Und war ein Weinberg nicht auch ein lebendiger
Raum?
Es ist zu viel Einsamkeit um mich herum, dachte Nicolas, dass mir derartige Gedanken kommen. Da fiel sein Blick auf ein Bändchen
mit dem Titel ›Worte eines Rebellen‹. Rita hatte gut aufgepasst, das hier war tatsächlich eine Partisanenbibliothek. Kein
Wunder, dass Friedrich sie verschlossen hatte. Nicolas nahm das Taschenbuch von 1972 in die |259| Hand, klappte es auf und las den unterstrichenen Text. »Die Parlamente ... haben nichts anderes getan, als die Machtmittel
in den Händen der Regierung zu konzentrieren.« Und weiter unten hieß es: »Seit Beginn dieses Jahrhunderts schreit man nach
Dezentralisierung, nach Autonomie, und man tut nichts als zentralisieren, alle die letzten Überbleibsel der Selbstbestimmung
töten.« Das hätte von Happe sein können, aber die Zeilen stammten von einem Peter Kropotkin, einem Otizier und Pagen des Zaren,
einem Anarchisten, geschrieben 1864. Brandaktuelle Fragen waren das, eine weitere Bestätigung, dass die Vergangenheit nicht
vergangen war. Nicolas schnupperte an dem Buch. Es roch süßlich, vergilbt und staubig. Er ging in den Salon und trank einen
Schluck Wein. Hatte Friedrich sich mit diesen Texten die einsamen Nächte am Douro um die Ohren geschlagen, oder hatte er sie
einfach nicht wegwerfen können? Ehemalige Apologeten der Veränderung outeten sich heute als entschiedene Gegner ihrer Vergangenheit,
aber sicher nur, weil sie bereits damals nichts anderes als Opportunisten gewesen waren.
Viele Bücher beschäftigten sich mit dem Vietnamkrieg. Zwischen ihnen steckte eine Landkarte von Vietnam, darin war das Vorrücken
des Vietcong genau eingezeichnet. »30. April 1975 – Sieg« stand da groß in Rot. Fast genau ein Jahr zuvor hatte das portugiesische
Militär geputscht. Es mussten für Friedrich bewegende Zeiten gewesen sein, denen er sich verbunden gefühlt hatte. Nicolas
fühlte sich seiner Zeit in keiner Weise verbunden. Es gab weder Rebellen noch Freiheitskämpfer oder gar Partisanen. Jeder,
der dagegen war, gehörte zu den Taliban.
»Ohne Feinde hält es keine Regierung aus, ohne Feinde bringen sie die Leute nicht hinter sich, sondern nur gegen sich auf.«
Originalton Happe. Er wird seine Freude an dieser Bibliothek haben, dachte Nicolas und freute sich, auch wenn er wusste, dass
nächtelange Diskussionen auf |260| ihn zukommen würden, so wie damals in den letzten Frankfurter Schuljahren. Er würde leider wenig Zeit dazu haben, die Quinta
forderte ihn täglich mehr, dazu der abendliche Unterricht. Und völlig unklar war, was das Treffen mit Otelo ergeben würde.
Davon hing seine Zukunft ab. Otelo war die Schlüsselfigur.
|261| 13.
Die Entscheidung
»Du solltest unser Land bereisen, Nicolau, dich umsehen. Lamego wäre ein Anfang, gerade für dich als Architekten. Von den
Baumeistern der Vergangenheit lässt sich vieles lernen. Die Kathedrale . . .«
Nicolas sah Dona Madalena an – was sollte der Vorschlag? Momentan war er nichts, weder Architekt noch Weinbauer.
»Ich kenne Lamego«, antwortete er ausweichend, »auch die Kathedrale, nebenan ist mein Barbier.«
Er war nicht hier, um Kunstschätze und mittelalterliche Bauwerke zu besichtigen, die durchaus ihren Wert hatten. »Eine katastrophale
Architektur, es gibt schreckliche Gebäude
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