Der Portwein-Erbe
Laufbänder und strangulierende Trimmgeräte ...
Er wollte seinen Zeichenblock holen, als er auf dem Hof vor der Gärhalle den Kellermeister und Gonçalves toben hörte. Merkwürdigerweise
erfüllte es ihn mit einem seltenen Gefühl von Befriedigung, was er sich nur schwer eingestehen konnte, denn es war Schadenfreude
dabei, Bosheit und etwas, das er als Rachsucht bezeichnen würde. Er stand mit dem Rücken an die Tür gelehnt, schaute über
den Hof und lauschte. Er verstand nichts, er begriff nur so viel, dass zwei absolut gegensätzliche Meinungen und entgegengesetzte
Charaktere aufeinanderprallten. Als ihm in den Sinn kam, dass sie vielleicht seinetwegen stritten, riss er die Tür auf.
Die Streithähne standen sich wutentbrannt gegenüber und starrten ihn an wie ein Gespenst.
»
Chega
«, sagte Nicolas, »
chega!
« Er hatte das Wort eben von Dona Madalena beim Eingießen des Kaffees gelernt.
Nicolas ging auf Gonçalves zu. Er musste sich mühsam beherrschen, und zum ersten Mal sah er Angst in den Augen des Verwalters.
Sie war so groß, dass ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Hatte Gonçalves vor ihm solche Angst? |267| Nicolas nickte dem Kellermeister zu und ging zurück auf den Hof. Gonçalves rannte hinter ihm her.
»Sie müssen das verstehen. Wir machen uns Sorgen um die Quinta. Wir müssen Entscheidungen treffen, wichtige Entscheidungen,
von denen hängt viel ab.« Er sprach wieder gut Englisch. »Jemand muss die Verantwortung übernehmen, und Sie können das nicht.
Wir müssen den Jungwein abfüllen. Jemand muss entscheiden, wann genau das passieren muss. Bisher hatten wir Otelo, der hat
das entschieden und sonst Seu Frederico. Aber jetzt ... Und wie lange bleibt die Reserva 2005 noch im Barrique? Welche Barriques
werden miteinander verschnitten? Dann geht der Tawny zu Ende, wir müssen neu abfüllen. Wer soll die Assemblage zusammenstellen?
Das ist eine Kunst. Wir haben heute von einem wichtigen Kunden in Boston einen Auftrag über 900 Flaschen bekommen, verstehen
Sie nicht? Das sind 10 000 Euro. Sie können das nicht entscheiden.«
»Was ich entscheiden kann, bestimme ich. Wenn Sie mit mir zusammengearbeitet hätten, wäre das alles kein Problem geworden«,
antwortete Nicolas barsch. »Wir werden das Problem lösen. In einer Woche ist alles geklärt. Verstanden? Sagen Sie dem Kunden,
er kriegt seinen Tawny.
And now piss off!
« Der Mann ging ihm entsetzlich auf die Nerven.
Nicolas ließ Gonçalves mit offenem Mund stehen. Er holte den Zeichenblock und fuhr nach Folgosa, wo er sich an den Fluss setzte.
Perúss war mitgekommen. Das Ensemble der kleinen bunten Häuser am anderen Ufer erinnerte ihn an ein Dorf im brasilianischen
Staat Bahia. Darüber spannte sich das Blau des Himmels, als hätte es van Gogh gemalt. Nicolas liebte seine Farben.
Die Menschen, die hier wohnten, mussten den Anblick satt gehabt haben, sonst hätten sie kaum den hässlichen Kasten ans Flussufer
gesetzt, ein Nobelrestaurant mit dem |268| vielversprechenden Namen »D.O.C.« – die kontrollierte Herkunftsbezeichnung. Das Gebäude verletzte die Landschaft, und sein
Anblick schnitt in die Netzhaut. Die Eisenbahn entlang des Flusses, vor 100 Jahren gebaut, war besser angepasst worden.
Das »D.O.C.« war das Lokal für die Geschäftswelt des Weinbaus, die sich von Porto hierher verlagerte. Mittlerweile lebten
eine Reihe der Produzenten in der Nähe. Nicolas kannte sie nicht, sie hatten noch nicht vorbeigeschaut, und er hatte sich
nicht vorgestellt. Nein, die Erbauer des Restaurants stammten nicht von hier und standen auf Gewerkschaftsarchitektur der
Sechziger, wie er diese Bauweise nannte.
Wahrscheinlich führten die Winzer ihre internationalen Gäste her und Lovely Rita ihre Weintouristen. Er schmunzelte beim Gedanken
an seine Premiere als Kellereibesitzer. Alles hatte gepasst, nur hatte er sich das Wissen angelernt, besitzen tat er es nicht.
Das war der Unterschied. Er konnte noch immer aussteigen, dabei zweifelte er inzwischen ernstlich daran. Es war Friedrichs
Besitz, den durfte er nicht aufgeben. Plante Gonçalves, im Verbund mit wem auch immer, Friedrichs Weinberge hinter seinem
Rücken zu verscherbeln?
Wie dumm musste man eigentlich sein, um ein Erdbeben nicht zu erkennen? Nicolas hatte es noch immer nicht begriffen, die Einmaligkeit
der Situation war ihm nicht klar. Er begann erst jetzt, es sich deutlich vor Augen zu führen. Er war in ein neues Stadium
eingetreten,
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