Der Portwein-Erbe
weiteren Verbündeten, der sich nicht offen zu erkennen geben wollte, aber es war gut zu wissen,
dass es ihn gab.
|256| Nach der durchwachten Nacht gönnte sich Nicolas einen Mittagsschlaf, zumal er nicht wusste, was er sonst hätte tun sollen.
Mit dem Gedanken daran, nächste Woche auch Rita in Lissabon zu treffen, schlief er ein.
Zum Abendessen, einem kräftig gewürzten Lammgulasch, empfahl ihm Dona Firmina einen Rotwein der Quinta Vale Dona Maria. Er
war von tiefem Kirschrot und vom Duft her sehr würzig. Er hatte etwas von Bitterschokolade und Mandeln, aber das merkte er
erst, nachdem ihn die Broschüre über richtiges Verkosten darauf gebracht hatte. Von allein wäre es Nicolas nicht aufgefallen.
Der Wein hatte feine und auch kräftige Gewürznoten, er erinnerte ihn an andere, die er zuvor hier gekostet hatte. Er stieg
mit seinen 14,5 Prozent Alkohol ein wenig in die Nase. Und die Gerbstoffe? Nicolas hätte lieber mehrere Weine zum Vergleichen
gehabt, um dann zu sagen, dieser oder jener sei rauer oder glatter. Der Geschmack blieb lange im Mund. All das schrieb er
auf.
Zum Essen trank er eine halbe Flasche, mit der zweiten Hälfte begann die Reggae-Nacht. ›Burning Spear‹ fand sich in Friedrichs
Plattensammlung, Bob Marley und Peter Tosh, die Größen des Business. »
The harder they come, the deeper they fall
«, sang Jimmy Cliff und traf damit Nicolas’ augenblickliche Gemütsverfassung. Er wuchtete einen Sessel auf die Terrasse, ließ
sich hineinfallen und hörte zu. Nach einer Weile schweiften seine Gedanken ab. Friedrich musste großartige Zeiten erlebt haben,
die Sechziger- und Siebzigerjahre mussten voller Bewegung gewesen sein. Der Aufbruch zu neuen Ufern hatte das Establishment
verschreckt, es hatte begriffen, dass es unter Menschen und nicht nur unter Arbeitskräften im Rausch des Wiederaufbaus lebte.
Sie hatten sich geängstigt, denn ein Gespenst ging um – und nicht nur in Europa. Mögliche Veränderungen hatten sich abgezeichnet,
wie verworren auch immer. Die Gegenseite hatte lange gebraucht, das Rad zurückzudrehen, die Menschen |257| umzutrimmen, sie zur Anpassung zu bewegen. Spaß als oberste Maxime und das Ego als Zentrum allen Strebens. Es schien Nicolas,
als wäre Friedrich mit einem Bein in seiner Zeit geblieben. Dieses Stück Welt hatte er ihm überlassen, nicht damit er es aufgab,
sondern um es zu betreiben!
Er sah hinunter zum Fluss. War es das, was er da unten blinken sah, dieser winzige Ausschnitt des Rio Douro, sein Ufer? Er
sah das Mondlicht Silber über den Blättern der Weinstöcke ausschütten und fühlte sich verdammt wohl. Teufel, er wollte bleiben,
er wollte hier sein. Er ging die Treppe hinunter, kniete sich neben dem Parkplatz zwischen die ersten Weinstöcke und nahm
eine Handvoll Erde, roch daran, versuchte Worte dafür zu finden, wie diese Erde roch. Es gelang ihm nicht, der Geruch war
zu stark. Da erinnerte er sich an die Nachschlagewerke – und an Friedrichs Bücher, die Partisanenbibliothek, wie Rita sie
genannt hatte.
Er schloss die Tür zur Bibliothek auf, sah das Bild mit der Bibel und das Buch von Zola darunter. Der Geruch des in Jahrzehnten
vergilbten Papiers schlug ihm entgegen, als er die Tür öffnete, gealterter Wein roch besser, aber der Geruch dieses Papiers
war ihm inzwischen vertraut. Er schob das Regal beiseite und machte sich an die Durchsicht der zerlesenen und zum Teil auseinanderfallenden
Bände.
›Grundrisse der Politischen Ökonomie‹ von Karl Marx, Auszüge daraus hatten sie im Philosophiekurs der zwölften Klasse gelesen
und waren darüber hergezogen. ›Theorie und Praxis‹, ein Buch von Jürgen Habermas, der zur Frankfurter Schule gezählt wurde.
Nach dem Abitur hatte Nicolas nie wieder davon gehört, doch dass jedes Erkennen vom Erkenntnisinteresse abhängig war, hatte
er sich gemerkt. Was hieß das für ihn hier, für das Erkennen seiner Lage und der Situation der Quinta, die ihm nach dem Ereignis
beim Reisebüro noch brenzliger erschien? Hieß es, dass |258| man nur sah, was man sehen wollte? Wollte er manches nicht sehen, weil er es sich nicht vorstellen konnte? Nicolas starrte
auf das Buch in seinen Händen. Auch Friedrichs Herzversagen hatte natürliche Ursachen. Ein Herz bleibt irgendwann stehen,
das ist normal. War das wirklich natürlich gewesen?
»Welchen Zustand muss das herrschende Bewusstsein erreicht haben, dass die dezidierte Proklamation von
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