Der Portwein-Erbe
Interpretationen seines Tonfalls.
Die Privaträume seines Onkels lagen nach Westen dem Berg und den Reben zugewandt. Gegenüber, nach vorn raus, gab es ein Gästezimmer
mit Bad und ein winziges Apartment, das Otelo Gomes bewohnte, wenn er nicht nach Hause fuhr.
»Den Weinkeller müssen Sie sehen«, sagte der Verwalter, und Nicolas tat ihm den Gefallen. Gonçalves schloss die Kellertür
auf, betätigte innen einen Schalter, und das Licht ging an. Eine lange Holztreppe führte hinab in ein Gewölbe. »Der älteste
Teil des Hauses«, sagte er. »Gehen Sie, gehen Sie vor, alles, was unten liegt, gehört Ihnen.«
Er wandte sich um, rief etwas in den Hausflur, trat zurück und ließ Nicolas mit einem Lächeln den Vortritt. Als das Licht
ausging und Nicolas den Fuß auf die dritte Stufe setzte, wusste er, was passieren würde. Aber es war zu spät. Er hatte sein
Gewicht schon zu weit nach vorn verlagert, |111| als dass er zurückgekonnt hätte. Er spürte, wie das Holz unter seinem rechten Fuß nachgab, wie er durch die Stufe brach, auch
die nächste gab mit einem Krachen nach, und Nicolas stürzte ins Bodenlose. Er merkte noch, wie er hart aufschlug, spürte einen
wahnsinnigen Schmerz im Arm, dann ging auch bei ihm das Licht aus.
|112| 6.
Leere Fässer
»Senhor ’Ollmann! Senhor ’Ollmann?«
Es dauerte eine Weile, bis Nicolas sich angesprochen fühlte. Er krümmte sich, und im selben Moment raste ein stechender Schmerz
von seinem rechten Arm aus bis in den Rücken. Er stöhnte. Es wurde hell, und er schloss gleich wieder die Augen.
»Seu ’Ollmann?« Das klang eindringlich. Er blinzelte, versuchte, sich klar zu werden, wo er war. Er war im Weinkeller angekommen,
er sah Weinflaschen und Lichtreflexe, Regale mit stehenden und liegenden Flaschen, Kisten und aufgerissene Kartons, einen
Tisch, einen Stuhl. Er sah es von unten – und um sich herum die Trümmer der Treppe. Dafür war es angenehm kühl, und er ließ
den Kopf wieder sinken.
Die Stimme, nein, es waren zwei, die ihn abwechselnd riefen, kamen von oben. Er wollte den Kopf heben, doch das schmerzte
heftig, und er stöhnte wieder. Leider verstand er nicht, was sie sagten. Sie klangen besorgt, kamen näher. Jetzt war jemand
bei ihm angekommen, es war der Verwalter, der sich über ihn beugte.
»
Oh, meu Deus
«, hörte Nicolas ihn in seiner selbstgefälligen Art sagen. Hörte er da einen Vorwurf heraus?
»
I am so sorry
.«
Ich auch, dachte Nicolas, ich auch, und versuchte, sich ohne allzu viel Schmerzen aus den Holztrümmern zu befreien. |113| Gonçalves half ihm dabei und räumte die eingebrochenen Treppenstufen beiseite. Nicolas roch das Holz – und den Wein. Ein Brett
hatte eine Weinkiste zerschlagen, und eine rote Lache kroch auf ihn zu. Er wollte nicht nass werden, also musste er schleunigst
hochkommen. Der Verwalter trat zurück und beobachtete Nicolas’ hilflose Versuche, mit nur einem Arm die Bretter wegzuräumen,
dann fasste er wieder mit an, betrachtete kopfschüttelnd die Bruchstellen und stapelte die Bretter umständlich an der Wand.
Zuletzt half er Nicolas auf.
Es war der rechte Unterarm, verstaucht oder gebrochen, und wenn gebrochen, so war es zumindest kein offener Bruch. Er konnte
die Hand nicht bewegen, den Arm genauso wenig. Nicolas taumelte, merkte, wie benommen er war, und ihm war schlecht. Wenn ich
jetzt noch kotzen muss, dann habe ich eine Gehirnerschütterung, dachte er und fragte sich sofort, woher er das eigentlich
wusste, während der Verwalter und ein anderer Mann, den er nicht kannte, ihm über eine Leiter und die heil gebliebenen Treppenstufen
nach oben halfen. Er ließ sich im Hausflur auf den Boden sinken, die Kühle der Steinplatten tat gut, er lehnte sich zurück,
bis ihn der Schmerz im Arm aufstöhnen ließ.
Die Haushälterin und der Verwalter standen sich gegenüber und stritten. Aus ihrem Mund hörte er immer wieder das Wort
bombeiros
, und Gonçalves stieß wiederholt einen Namen hervor:
Doutor Veloso
. Nicolas verstand von allem nichts, er wollte nur Wasser. Der Verwalter schien sich durchzusetzen, denn er ging ins Büro,
und durch die offenen Türen hörte Nicolas ihn telefonieren, wobei er denselben Namen nannte. Lourdes, die Sekretärin, stand
im Halbdunkel, beobachtete Nicolas und flüsterte mit der Köchin und dem unbekannten Mann mit weit offenem Hemd. War das Dona
Firminas Ehemann, der Hausmeister? Er erkannte es an der Bestimmtheit, mit der sie ihn in die
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