Der Portwein-Erbe
stehenden Gewässers
gewinnen konnte. Der Scheibenwischer machte ein einschläferndes Geräusch, was Nicolas’ Niedergeschlagenheit verstärkte. Das
Gefühl, überflüssig zu |121| sein, das er aus Porto kannte, holte ihn ein. Alles hier hatte ohne ihn funktioniert, die ganze Welt funktionierte ohne ihn.
Das Leben war so banal, dass er sich wunderte, wie sehr man daran hing und darum kämpfte. Für derartige Grübeleien war Sylvia
nicht zu haben, wie die meisten Frauen. Sie waren praktischer, nicht so kompliziert, oder sahen ihren Sinn in irgendwelchen
Selbstverwirklichungen. Er musste ihn sich selbst geben oder finden, nichts kam von außen. Falsch, total falsch, dachte er,
das, was hier passiert, kommt von außen. Friedrichs Tod bestimmt mein Leben, die Umstände bestimmen es; was andere geschaffen
haben, schreibt mir meine Wege vor. In jedem Moment konnte er widerrufen, zurücktreten, dem Douro den Rücken kehren, und kein
Hahn würde nach ihm krähen. Einer von ihnen hatte ihn heute geweckt, das Krähen hatte er ewig nicht mehr gehört. Es war sympathischer
als das Klingeln eines Weckers, nur leider konnte man die Tiere nicht ausstellen.
Alle lebten bestens ohne ihn, seine Gegenwart änderte nichts. Falsch, total falsch, dachte er wieder und sah seinen Fahrer
an. Dieser Mann fuhr ihn ins Krankenhaus. Dr. Veloso hatte seinetwegen auf die Quinta kommen müssen. Dr. Pereira war eine
Menge Arbeit aufgehalst worden.
Seu Roberto zeigte Nicolas eine längst verheilte Verletzung am Bein, die wohl dort behandelt worden war. Nicolas musste nicht
lange warten, vor ihm war niemand in der Unfallstation. Den Arm für die Aufnahme zurechtzulegen, war mit höllischen Schmerzen
verbunden. Der Arzt, etwa in Nicolas’ Alter, erklärte ihm in leidlichem Schulfranzösisch, dass es besser sei, den Arm gleich
zu richten.
Die nächste halbe Stunde musste Nicolas die Zähne zusammenbeißen. Aber kaum hatte er den Gipsverband angelegt bekommen, wollte
sich der Arzt mit ihm über Berlin unterhalten. Er und seine Frau seien von ihrem Besuch im letzten Jahr begeistert zurückgekommen,
nur die Warteschlangen an der Neuen Nationalgalerie hätten sie |122| abgestoßen. Und die Hochhäuser am Potsdamer Platz – wann die denn dahin transportiert würden, wo sie hingehörten? Nicolas
brauchte einen Moment, bis er, noch narkosegeschädigt, begriff, was der Arzt meinte.
Das wisse er leider nicht, der Potsdamer Platz sei sowieso nur für Touristen gemacht, Berliner würden mit dem Auto obendrüber
oder mit der S-Bahn untendurch fahren. Mit dieser Erklärung gab sich der Arzt zufrieden und meinte, dass Nicolas den Arm bald
wieder bewegen könne. Alles sei eine Sache der Übung, und in drei Wochen sei alles verheilt. »Kommen Sie in einer Woche wieder.«
Anschließend fuhren sie zu Dr. Veloso. Der kümmerte sich sofort um ihn, prüfte den Verband, drückte Nicolas ein anderes Schmerzmittel
in die Hand, von den Tabletten solle er morgens und abends nur eine nehmen, das würde reichen. In wenigen Tagen seien die
Schmerzen vorbei. Er komme gern vorbei, Dona Firminas Küche sei nicht zu verachten, aber Nicolas sei ja beschäftigt, da er
sich einarbeiten müsse, und da wolle er nicht stören. »Die Abende sind still, das ist ein Großstädter wie Sie nicht gewohnt,
aber lassen Sie sich nicht entmutigen. Außerdem kommt Dona Madalena demnächst zurück, dann haben Sie Gesellschaft. Ich hoffe,
sie ist wieder obenauf. Es war schrecklich, mit anzusehen, wie sie litt. Der Schock, neben einem Toten aufzuwachen, war das
Schlimmste. Ich kann das beurteilen, es war entsetzlich für sie. Ich hoffe, es wird sich nicht zu einem Trauma auswachsen.
Ihre Anwesenheit, Nicolau, wird ihr helfen. Sie muss sich alles von der Seele reden. Sie sollten für sie da sein, Reden ist
momentan das Wichtigste für sie. Man braucht in solchen Fällen Menschen, denen man vertraut, Sie sind der Neffe, Sie können
zuhören, und das müssen Sie, es ist Ihre Pflicht. Ach . . .«, Dr. Veloso fasste sich an den Kopf, »ich vergaß, Sie sprechen
ja kein Portugiesisch. Oder vielleicht ist das ganz gut, als Therapie sozusagen. Madalena könnte es Ihnen beibringen. Oder? |123| Nein, doch keine so gute Idee«, meinte er mehr zu sich selbst. »Sie wird nicht die Geduld dazu haben. Ich war dort, als es
geschehen ist, ich habe sie danach behandelt . . .«
»Ich denke, Sie sind Chirurg«, wandte Nicolas ein.
»Konsultieren Sie lieber
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