Der Portwein-Erbe
Port von 1995 und 1999 gewesen, vom IVDP bestätigt – und jetzt waren die Fässer leer.
Ob eine größere Zahl von Flaschen fehlte, müsste sich genauso feststellen lassen. Pereiras Liste führte ihre Anzahl getrennt
nach Inhalt und Jahrgängen auf und auch das, was zum Reifen in den Barriques lagerte, die neben den pipas zu dritt übereinandergestapelt
waren. Würde man die aktuellen Verkäufe abziehen, was sich anhand der Rechnungen und Lieferscheine beziffern lassen müsste,
käme man auf den aktuellen Bestand.
Ist das mein zukünftiger Beruf, Flaschen zählen?, dachte Nicolas entnervt. Ich wollte Gebäude entwerfen, in denen man sich
bewegen kann, die dem Menschen entsprechen. In Porto Stadtplanung zu betreiben, wäre naheliegender gewesen. Dass Winzer Landschaftsdesigner
waren, versöhnte ihn ein wenig.
Auf dem Hof wandte sich Nicolas rechts dem Haus zu, das er noch nicht betreten hatte. Er zückte seinen Schlüsselbund, doch
die Tür war offen. Beim Eintreten bemerkte er, dass ihn jemand von der Halle aus beobachtete.
In dem Gebäude, das wie die anderen vom Dach und einigen reduzierten Schnörkeln her ein wenig an Barock erinnern sollte, war
es angenehm kühl. Hier stand eine Etikettiermaschine, und Nicolas versuchte, anhand der Mechanik sich den Vorgang des Etikettierens
vorzustellen. In den Drahtcontainern daneben befanden sich leere Flaschen, an der Wand lagerten hellgraue Kartons, mit dem
Markenzeichen der Quinta bedruckt. Auf Holzkisten für jeweils drei oder sechs Flaschen fand sich ebenfalls das puristische
Logo, mit wenigen Strichen den Berg, das Haus und den Fluss umreißend. Der knallrote Gabelstapler in einer Ecke hingegen erinnerte
Nicolas an ein Spielzeug, und er schmunzelte; ein wenig glich die Erkundung der Quinta dem Geschenkeauspacken am Weihnachtsabend.
|136| Links befand sich ein Labor neben einer gut ausgestatteten Werkstatt, Umkleideraum und Toiletten schlossen sich an. Rechts
führte eine Treppe neben einem Lastenfahrstuhl ins Dunkel. Nicolas spürte die Kühle, die ihm von dort entgegenkam. Um sie
zu genießen, war es jedoch zu kalt. Vielleicht würde das zu seinem Fluchtpunkt werden, wenn die gefürchteten 45 Grad herrschten.
In einer Broschüre, die er von seiner Besichtigungstour in Gaia mitgebracht hatte, stand, dass Portwein wegen der Hitze nicht
auf den Quintas am Rio Douro gelagert wurde, sondern unten in Vila Nova de Gaia. In Meeresnähe war die Temperatur niedriger,
und es herrschte höhere Luftfeuchtigkeit. Die Regel stammte sicher aus Zeiten, als es keine Kühlanlagen gab und die Fässer
der Weinbauern in Schuppen lagerten, wie auf den alten Fotos. Im Frühsommer waren sie dann verschifft worden.
Er schaltete das Licht ein – und blieb von dem Anblick überwältigt stehen. Vor ihm waren Nischen in den Stein gehauen, und
darin lagen Hunderte von Flaschen. Die Nischen waren mannshoch und so breit, dass er die Arme ausstrecken musste, um beide
Seiten zu berühren. Er würde wahnsinnig, wenn er das alles zählen müsste. Man konnte nur schätzen. Die Stapel standen in mehreren
Reihen hintereinander und reichten bis knapp unter die Decke. Wenn man eine Reihe entfernte, fiel das gar nicht auf. Er würde
einen Spiegel an einem Stiel anbringen müssen und ihn in den Zwischenraum zwischen Flaschen und Decke einführen, um zu sehen,
ob die Reihen bis auf den Boden reichten. Er multiplizierte die Zahl der Flaschen in der Breite und Höhe und kam auf 600.
Jetzt müsste er nur noch wissen, wie viele Reihen hintereinanderstanden und ob sie komplett waren. Lagen hier die Weine, um
zu reifen? Er würde Lourdes danach fragen.
In seiner Ratlosigkeit wollte Nicolas Pereira anrufen, aber im Keller bekam er keine Verbindung. Draußen auf |137| dem Hof, unter den misstrauischen Augen des Kellemeisters, funktionierte es.
Pereira ermunterte ihn, die Differenzen zu klären. »Machen Sie weiter, machen Sie Fehler und beobachten Sie, wie die Mitarbeiter
darauf reagieren, daran erkennen Sie Stärken und Schwächen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich Ihr Onkel bei Gonçalves
geirrt hat – allerdings macht jeder mal Fehler. Es gibt wahre Künstler der Maske. Klären Sie die Differenzen, dadurch lernen
Sie die Quinta kennen, das mag Ihr Onkel bezweckt haben. Schreiben Sie alles auf, führen Sie Protokoll. Beim Wein ist es einfach,
die Differenzen zu klären, weil über die Bestände Buch geführt wird. Jeder Produzent muss dem
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