Der Portwein-Erbe
bis unter die Decke mit Büchern, Broschüren, Schallplatten und Mappen vollgestopft, am Fenster lud ein Tischchen mit Ledersessel
und Leselampe zum Platznehmen ein. Für Nicolas hatte der Raum etwas von einer Gruft, ganz im Gegensatz zum Weinkeller, es
war eine Gruft der Worte, wo sie ausschließlich für sich selbst existierten, Gedanken mit und ohne Bezug zum Leben, zur Wirklichkeit,
zum wunderbaren Abend, der sich draußen über die Weinberge senkte.
|147| Die Bibliothek war wie der Weinkeller nach Ländern geordnet. Da waren Frankreich und seine Existenzialisten, dazu die Romanciers.
Deutschland war mit allen Klassikern vertreten, mit den geflohenen, den vertriebenen und verbrannten Autoren. Bei den Briten
wurde Friedrichs Vorliebe für Shakespeare, George Orwell und Bruce Chatwin deutlich, den Nicolas auf seiner Südamerikareise
gelesen hatte. Die Russen nahmen sogar zwei Reihen ein. Nicolas kratzte sich etwas hilflos am Kopf. Konnte man das alles lesen?
Einige Autoren kannte er von der Schule her, einiges hatte er im Exil gelesen, so hatte er damals das Wochenendhaus von Sichel
genannt. Er hatte sich da verkrochen, um den Forderungen seiner Familie zu entgehen. Sichel, den alle aus unerfindlichen Gründen
mit seinem Nachnamen anredeten, gehörte als jüngerer Bruder seiner Mutter auch zur Familie. Er war früh zu eigenem Geld gekommen,
bereits als Student ein begnadeter Versicherungsvertreter gewesen, aber er war unabhängig und ein Mann, der für alle Um- und
Abwege Verständnis hatte.
Er würde viel Zeit für diese Bücher haben, ahnte Nicolas. Beim Betrachten der Buchrücken kam er sich schäbig vor, indiskret,
er hasste es, wenn Gäste die Wohnung inspizierten und in seinem Bücherregal herumschnüffelten. Na, mit wem haben wir es denn
hier bitte schön zu tun?
Amerika hatte Friedrich nach Nord und Süd aufgeteilt. In Südamerika lag das Schwergewicht auf Brasilien, sicher wegen der
Sprache. Jorge Amado nahm 30 Zentimeter Regalbreite ein. Ein Titel ließ ihn stutzen: ›Das dritte Ufer des Flusses‹ von João
Guimarães Rosa. Wie war das gemeint? Im Klappentext der deutschen Übersetzung las er etwas von »skurrilem Humor« und »surrealistischen
Bildern« – wenn er sich in diesem Raum umsah, an den mutigen Geruch von altem Papier hatte er sich gewöhnt, meinte er, sich
selbst in einem skurrilen Bild zu befinden, |148| inmitten der Bücher, mit der Stehlampe hinter dem Sessel und dem Lesetisch. Er bewegte sich durch einen Film aus vergangenen
Tagen. Er legte das ›Dritte Ufer‹, über das er beim Durchblättern nichts in Erfahrung hatte bringen können, auf den Tisch.
Es gab einen weiteren Band von Guimarães Rosa, ein Buch ohne Rücken, so zerlesen wie das auf van Goghs Gemälde: ›Grande Sertão‹.
»Der Teufel auf der Gasse, mitten im Wirbelwind . . .«, las er. Was für ein Vorwort. Teufel. Und dann der Anfang: »Hat nichts
auf sich. Das Knallen, das Sie vorhin gehört haben, war keine Schießerei, da sei Gott vor. Hab nur ein bisschen Scheiben geschossen,
drunten am Bach, auf einen Baum in Quintal. Zur Übung. Tu ich jeden Tag, zu meinem Vergnügen . . .«
Gott und der Teufel, Metaphern für zwei Extreme, zwischen denen sich unser Leben bewegte? Nicolas legte das Buch weg. Es interessierte
ihn weniger vom Einstieg her als wegen des zerfledderten Einbands. Entweder hatte Friedrich es antiquarisch gekauft oder so
oft gelesen, dass es fast auseinanderfiel. Sicher gaben die Unterstreichungen Aufschluss über ihn, über sein Wesen. Was bedeutete
es, dass unter den deutschen Autoren kein Grass, aber die Brüder Mann standen?
Im Regal direkt neben der Tür, sozusagen in Griffnähe, standen die Weinbücher. Die hatte er gesucht, doch man fand immer etwas
anderes, wenn man suchte, und zu gern hätte er sich mit dem ›Dritten Ufer‹ weiter beschäftigt, mit dem dritten Ufer des Rio
Douro vielleicht. Doch der Wein forderte sein Recht, und dieses Regal war eine Fundgrube, seine Rettung, sein Licht in der
Finsternis. Wein von A–Z, Wie Wein entsteht, Rebsortenlexikon, Kellereiwirtschaft, Weinbautechnik, Weine der Neuen Welt, Weinführer
aus aller Herren Länder, Frankreichs Appellationen, Weine degustieren, Die neuen deutschen Weine, die Enzyklopädie der Weine
von einem Hugh Johnson, Weinbaugebiete und |149| Weinerzeuger. Neugierig schlug Nicolas den Portugal-Teil auf.
»Die Sage will wissen, dass es nur die grässlichen Douro-Weine
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