Der Portwein-Erbe
Kurierdienst hielt vor dem Haus, im Paket war der Portugiesischkurs zum Selbstlernen. Happe war zuverlässig. Nicolas würde
sich am Abend damit beschäftigen. Auch Carlos hielt Wort. Er tauchte gegen sechs Uhr abgehetzt auf und hörte fassungslos den
wahren Grund für Nicolas’ Reise an den Douro. Staunend folgte er ihm durch die Quinta. Es war Nicolas’ erste Führung durch
den neuen Besitz.
|154| »Du kannst dir nicht vorstellen, was für ein Glück du hast«, meinte Carlos und bekam den Mund noch immer nicht zu.
»Glück?« Nicolas zog den zukünftigen Önologen hinter sich her zu Friedrichs Privatkeller, schloss die Tür auf, ohne das Licht
anzumachen. »Die Treppe ist eingebrochen.«
Carlos ging nach unten, untersuchte die Stufen, rüttelte an der Treppe und schüttelte den Kopf. »So morsch scheint mir das
Holz nicht zu sein.«
Nicolas hob vorsichtig den bandagierten Arm. »Jetzt trage ich dieses Andenken mit mir herum. So viel zum Glück. Der Verwalter
beklaut mich allem Anschein nach, die anderen belauern mich von morgens bis abends. Der Hund meines Onkels wird mit Steinen
beworfen, der Assistent gibt dem Kellermeister Anweisungen, der Hausmeister ignoriert mich, und ob die Köchin mich eines Tages
vergiftet . . .« Er zögerte, ob er Carlos von der Erbregelung erzählen sollte. Er vertraute ihm, irgendwem musste er vertrauen,
sonst würde er verrückt.
»Was erwartest du?«, meinte Carlos ungerührt, als er die Hintergründe erfahren hatte. »Sie werden alles tun, um dich von hier
zu vertreiben. Weshalb sollten sie kampflos das Feld räumen?«
»Du meinst, sie wissen davon?«
»Wieso nicht? So, mein Freund, ich hab’s eilig, meine Freundin wartet. Lass uns fahren, damit wir diesen
provador
treffen.«
Es war Carlos nicht recht, dass Nicolas mit dem Geländewagen fuhr, sie nahmen seinen Wagen. Nicolas fand den Weg auf Anhieb
wieder. Vor dem Haus befragte Carlos alle Nachbarn und sprach mit dem Besitzer des Ladens an der Ecke. Einer verwies ihn an
den anderen, nach jedem Gespräch kam er kopfschüttelnd aus einem der Häuser, bis er sich wieder zu Nicolas in den Wagen setzte.
»Nichts, keine Spur. Niemand weiß, wo er ist, aber einer |155| sprach von Lissabon. Otelo soll dort eine Schwester haben, die hat früher auch hier gelebt. Zu der ist er womöglich gefahren,
aber eine Adresse gibt es nicht. Er verschwand nach der Beerdigung deines Onkels. Einer der Nachbarn meinte, Otelo hätte mit
nur einem Koffer fluchtartig das Haus verlassen.«
|156| 8.
Die Mine
Auf Seite elf des Portugiesischlehrbuchs begegnete Nicolas bereits dem Vinho do Porto – wörtlich übersetzt hieß es »Wein des
Hafens«. Also waren seine Überlegungen zum Hafenwein richtig gewesen. Das Lehrbuch zeigte die Karikatur einer Blondine mit
Zigarettenspitze an einem Bistrotisch, ein Kellner schmachtete sie an und nahm ihre Bestellung auf. »
Um vinho do Porto, por favor
«, klang es von der dazugehörenden Kurs-CD auf seinem Laptop. Darauf abgestimmt war das Begleitbuch, in dem Nicolas aufgefordert
wurde, etwas zu trinken zu bestellen, in seinem Fall den Portwein. Es gab eine Broschüre über den Lektionswortschatz. Den
akustischen Wortschatztrainer konnte er beim Fahren hören, denn Friedrichs Landrover hatte einen eingebauten CD-Player. Den
Geländewagen als sein Eigentum zu begreifen, fiel ihm schwer, obwohl es rechtlich korrekt war. Auch das Unternehmen seines
Vaters hatte er nie als etwas begriffen, das ihm irgendwann gehören könnte.
Das Paket mit den Lernmitteln und der unkomplizierte Umgang mit der Sprache lenkten von dem Umstand ab, dass er vorerst nicht
mit Seu Otelos Hilfe rechnen konnte. Die Art seines Aufbruchs war äußerst merkwürdig. Nicolas schob seine Besorgnis beiseite,
alles würde sich finden, jetzt hatte die Sprache Vorrang. Was der Schlüsselbund für die Türen der Quinta, war der Sprachkurs
für den Zugang zu |157| den Menschen. Er würde es sofort ausprobieren und ging in die Küche.
»
Boa noite, Dona Firmina, um vinho tinto, por favor
«, sagte er, als er in die Küche trat, wo sie das Essen für ihren Mann aufwärmte, der eben nach Hause gekommen war. Was machte
dieser Kerl den ganzen Tag? Nicolas hatte seinen Wagen gehört, wie er neuerdings auf vieles achtete, was im und um das Haus
herum geschah. Bald würde er die Geräusche zuordnen können, denn es lag nicht wie in der Großstadt über allem ein Rauschen.
Die Köchin wandte sich vom Herd
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