Der Portwein-Erbe
römische Mutter erfahren,
ob ihr Sohn in Germanien gefallen war. Heute zählte man die Plastiksäcke oder Zinksärge genau. Aber im Zeitalter der Gleichgültigkeit
zählte auch das nicht mehr.
|189| Nicolas kannte den Namen Jethro Tull, aber Ian Andersons Flöte hatte er nie bewusst gehört. ›The Witch’s Promise‹, das Versprechen
der Hexe, was für ein wunderbarer Titel, aber was hatte sie versprochen? John Mayall – ›All by Myself‹, das war er, Nicolas,
›Room to Move‹, den hatte er auch, aber Unbekannte machten ihm seinen Raum streitig. Eric Claptons ›After Midnight‹ war für
Nicolas’ Geschmack viel zu erotisch. Die Musik machte ihn sehnsüchtig, doch Sylvia hatte damit wenig zu tun. Es dauerte den
Bruchteil einer Sekunde zu lang, bis er sich an ihren Namen erinnerte.
Wieso konnte jemand immer zu allem eine Meinung haben, ohne die Hintergründe zu kennen? Nicolas ging in den Salon, sah sich
um und versuchte, sich Sylvia in dieser Umgebung vorzustellen oder dort draußen, am Geländer der Veranda, auf den Fluss schauend.
Er konnte es nicht. Was hätten sie heute Abend zusammen gemacht? Es gab in den Bergen ringsum wenig Programm. 15 Kilometer
waren es nach Peso da Régua, in Berlin war das die Strecke von Steglitz zum Prenzlauer Berg, aber hier war es weiter, und
das ohne Staus und rote Ampeln.
Hatte Friedrich ein Geheimnis, hier irgendwo versteckt, oder hatte er es mit ins Grab genommen? Wo lag das eigentlich, sein
Grab?
Und Nicolas empfand es als unverzeihlich, dass er erst jetzt daran dachte und es nicht längst aufgesucht hatte. Gleich morgen
fahre ich hin, sagte er sich, gleich morgen. Ich grabe hier einen Weinstock aus und pflanze ihn dort. Ich nehme einen seiner
Weine mit und stelle die Flasche aufs Grab. Oder ist das albern, bin ich betrunken?
Mit jedem Tag auf der Quinta kam Friedrich ihm näher, zog er ihn mehr in sein Leben, Nicolas müsste sich in Acht nehmen. Die
Toten waren tot. Das Grab würde Friedrichs Geheimnis nicht enthüllen, außerdem konnte er dort |190| schlecht suchen. Also beginne ich hier in der Bibliothek, sagte er sich, ich bin am richtigen Ort, er spricht Bände über ihn,
in Bänden. Nicolas sollte sich die Unterstreichungen ansehen und auch die Bücher, die fehlten, gaben Auskunft.
Bei der Musik von Jimi Hendrix vergaß er die Nacht und genoss die Aussicht von der Terrasse. Nein, er genoss nicht, er trank
das Panorama, das mitternächtliche Blau. Hinter ihm war es ein wenig heller, wo die Sonne untergegangen war, das war der Widerschein
von Peso da Régua. Was für eine traumhafte Nacht, das schönste Wetter, warme, weiche Luft, viel zu warm, um allein zu sein.
War das Wetter auch für den Wein gut? Er nahm sich vor, aufs Wetter zu achten, mehr als bisher – gab es hier Wetterstatistiken?
–, das Wetter konnte er weder beeinflussen noch die Weinstöcke wegtragen, doch auf vieles andere hatte er Einfluss, täglich
gewann er ein wenig mehr. Er kam voran.
Nicolas entdeckte Schallplatten, von denen er noch nie gehört hatte. ›Psychedelic Rock‹ las er auf einer knallbunten Plattenhülle.
Er befand sich inmitten der alten Scheiben auf einer psychedelischen Schatzsuche. Auf Droge waren die meisten Musiker wohl
alle mal gewesen.
Er hätte jetzt auch ganz gern geraucht, mit Happe, der wusste immer, wo gutes Gras aufzutreiben war. Alles andere machte krank.
Dann redeten sie sich stark, debattierten bis in den Morgen, entwarfen Straßenzüge und Städte, spielten ihr ganz persönliches
Monopoly. Die Ideen wurden unter Drogeneinfluss nicht besser, aber kreativer und allemal lustiger. Da fiel ihm ein, dass er
einen Keller voller Drogen besaß, voller Wein. Wer würde Wein trinken, wenn er nicht trunken machte? War er jetzt so was wie
ein Drogenbaron? Na, zumindest ein Portwein-Erbe.
Es kostete ihn viel Überwindung, die Kellertreppe hinunterzukommen, er setzte die Füße tastend auf jede Stufe |191| und probierte, ob sie auch hielt. Er kam mit einer Flasche burgundischem Pinot Noir wieder nach oben, und tief in der Nacht
war auch sie leer.
Die nächste Stufe – eigentlich war es mehr die Sprosse einer steilen Leiter – erklomm er am nächsten Tag. Nicolas wunderte
sich, dass die Arbeiter aus den Weinbergen nicht auf der Quinta erschienen, um Anweisungen entgegenzunehmen oder abends von
der Tagesleistung zu berichten. Wie Lourdes erklärte, holte ein Kollege sie mit dem Auto ab und brachte sie zum
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