Der Portwein-Erbe
Quintas. Ihre Namen waren groß auf weiß leuchtende Mauern geschrieben. Dahinter
standen Tanks in Reihen, ein Vielfaches größer als die auf Friedrichs Quinta. Dann fuhr er wieder in die Einsamkeit. Auf den
engen Straßen und den Serpentinen machte ihm das Steuern Mühe, da er umgreifen und dazu das Lenkrad loslassen oder mit den
Oberschenkeln halten musste.
Er gelangte nach Peso da Régua, überquerte den Fluss und fuhr weiter in Richtung Lamego. Dr. Veloso hatte von der Stadt und
ihren Sehenswürdigkeiten gesprochen. Die Kathedrale da Sé, von außen sehr ansehnlich, war geschlossen, dafür hatte der Friseursalon
»Lord« in der Gasse gegenüber geöffnet. Ein Herr saß mit zurückgelegtem Kopf |194| auf einem uralten Friseursessel und ließ sich das Kinn einseifen. Zehn Minuten später saß Nicolas in derselben Haltung auf
demselben Stuhl und fühlte das Rasiermesser in einer Mischung aus Furcht und Genuss an der Kehle. Es wurde die beste Rasur
seines Lebens. Als der Barbier ihm auch das Haar schneiden wollte, winkte er ab. Es sollte wachsen – und er sah die Plattenhüllen
der letzten Nacht vor sich. Die Jungs hatten gut ausgesehen.
Die Sehenswürdigkeiten Lamegos wurden von architektonischen Verbrechen der Gegenwart erdrückt, verschluckt und zunichte gemacht.
Auf Fotos sahen sie besser aus. Nicolas wollte zum Friedhof, der lag hoch über der kleinen Stadt am Ortsausgang. Steinplatten
deckten die Gräber, Familiengrüfte säumten breite Wege, Marmor mit Inschriften oder Medaillons mit den Fotos der Verstorbenen
standen auf den Grabsteinen. Es waren nie die Fotos vom Zeitpunkt des Todes, keine von Leid und Schmerzen gezeichneten Gesichter.
Wer ließ ein Foto unter der Voraussetzung machen, dass es später auf den Grabstein käme? Nichts konnte einem gleichgültiger
sein. Oder gab es einen Willen über den Tod hinaus? Ja, den gab es, und Nicolas beugte sich ihm. Friedrich hatte es so gewollt.
Sein Grab war ein schmuckloser Erdhügel mit vertrockneten Blumen, kein Stein, nicht mal ein Kreuz, nur ein Schild mit der
Zahl 39, daran hatte er das Grab erkannt. Der Anblick bedrückte ihn, machte ihn still, gleichzeitig legte sich ein trauriges
Lächeln über diese Gefühle, als er sich an seine Besuche am Douro erinnerte und er Friedrich in seiner gut gelaunten Art vor
sich sah. Mit einer diffusen Hoffnung machte er sich auf den Rückweg. Am Tor sah er sich um und wunderte sich, wieso ihm dieser
Ort vertraut sein konnte. Lag es an der Erinnerung an Friedrich, oder war er eben gerade in Friedrich sich selbst begegnet?
Kurz vor Feierabend traf er wieder auf der Quinta ein. |195| Wenn er Gonçalves jetzt auf die Arbeiter ansprechen würde, konnte nur Lourdes ihm den Tipp gegeben haben, und diesen Eindruck
musste er so lange wie möglich vermeiden. Aber der Umstand, dass Fremde auf Friedrichs Weinberg arbeiteten, war äußerst mysteriös.
Quinta do Andrade! Nicolas griff zu einem Weinführer, fand den Namen und die Anschrift. Sie war keine zehn Kilometer entfernt.
Den Weinen nach, die in dem Führer angegeben waren, musste es sich um einen größeren Betrieb handeln, und seinen bisherigen
Erfahrungen zufolge gab es überall jemanden mit Sprachkenntnissen.
Er schloss das Büro ab und ging nach oben. Der Portugiesischkurs ging weiter, er wiederholte die Ausspracheübungen, das S
am Wortanfang wurde wie in Saft ausgesprochen, am Wortende wie bei Schule. Das Z sprach man ebenso aus. Ich bin –
eu sou
, du bist –
tu és
, er oder sie ist –
ele ou ela é
... Kompliziert war der Unterschied zwischen
ser
und
estar
, beides bedeutete ›sein‹, Deutscher sein hieß
ser alemão
, krank sein hingegen hieß
estar doente
– ein statischer und ein hoffentlich vorübergehender Zustand. Er arbeitete, bis Dona Firmina ihn zum Essen rief. Immerhin
war er bereits bei Lektion vier angekommen und merkte, dass es ihm Spaß machte, bei der Köchin die ersten Worte auszuprobieren.
Er war verblüfft, dass sie ihn verstand – und er begann sie zu verstehen, besonders da sie jedes Wort mit einer Geste unterstrich.
Er begann, die Namen der Zutaten der heutigen Suppe in seinen Glossar einzutragen: Lammschulter, Schweinespeck, Hartwurst,
Zwiebel, Minze, Salz und Brot.
Borrego, toucinho, chouriço, cebola, hortelã, sal e pão
. Besonders freute ihn, dass Perúss sich abends einstellte und an der Haustür von Dona Firmina sein Futter bekam. Wenigstens
das hatte er durchgesetzt. Und bis
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