Der Portwein-Erbe
weit und trocken werden. Nur gut, dass Perúss dabei
war, der würde den Weg finden. Auf Händen und Füßen krabbelte er zum Weg, auf dem er gekommen war, und trottete mit gesenktem
Kopf zurück durch die Hitze. Er fühlte sich wie nach einer verlorenen Schlacht. Es war heiß, ohne Kopfbedeckung spürte er
die Sonne bis auf die Schädeldecke brennen. Dann erreichte er die gesperrte Gabelung und stutzte.
Erst als er einige Meter weitergegangen war und sich umdrehte, merkte er, was ihn hatte zögern lassen. Der Weg, den er vorhin
genommen hatte, war jetzt abgesperrt. Das Verkehrsschild stand mitten darauf. Er stierte das Schild an, nein, er irrte sich
nicht, er sah die oberflächlich verwischten Abdrücke des Dreibeins im Boden, wo das Sperrschild gestanden hatte. Ihm wurde
trotz der Hitze kalt. Vorsichtig sah er sich um. Weit und breit war niemand zu sehen, nur weiter unterhalb wirbelte der Raupenschlepper
Staubwolken auf, und ein Motorrad knatterte irgendwo.
Nicolas starrte wieder auf die Abdrücke. Er war nicht wahnsinnig, er hatte sich das nicht eingebildet, und erst jetzt bemerkte
er, dass auf der Seite, die er genommen hatte, sich nur eine Reifenspur abzeichnete, seine eigene. Ihm war klar, was das bedeutete:
Anscheinend hatte er einen Todfeind – und plötzlich sah er vor sich wieder die Treppe zum Weinkeller.
|227| Verschwitzt, dreckig und humpelnd erreichte er gegen Abend Folgosa. Er hatte erst nach längerem Laufen gemerkt, dass er sich
beim Fallen die Hüfte geprellt hatte. Einen Fuß vor den anderen setzend erinnerte er sich an die alten Fotos der Weinlese
in diesen Bergen und an die Gesichter der Männer mit den Kiepen. Diese Wege waren sie mit 50 Kilo auf dem Rücken gelaufen,
um die Trauben zu den Quintas zu bringen – barfuß! In den Gesichtern war kein Hass gewesen und keine Freude. Es waren Gesichter
von Männern, die einfach nur versucht hatten, ihre Kräfte beisammen zu halten, nicht umzufallen, in der Reihe zu bleiben und
durchzuhalten. Und immer war ein Aufseher dabei, der die Verantwortung trug. Seine Peitsche war die Armut dieser Männer gewesen,
und an diesem Nachmittag brach sich etwas in Nicolas’ Bahn, das er bislang nicht gekannt hatte: Verachtung für die Menschen.
Sie mussten zutiefst böse sein, es war in ihnen angelegt, im menschlichen Charakter. Es war ihr Größtes, andere zu quälen,
sich über sie zu erheben, und bei dem Fußmarsch meinte er, dass sein Gesicht denen der Männer auf den Fotos glich.
Die Straßenköter Folgosas rotteten sich gegen Perúss zusammen, der sich nah an Nicolas hielt; sein Hund war kein Kämpfer,
einer Meute war er nicht gewachsen. Nicolas bückte sich und tat, als griffe er nach einem Stein, was auch Perúss zu einem
riesigen Satz von ihm weg veranlasste. Mit eingeklemmtem Schwanz jagte er davon, die Hundemeute raste hinterher. Nicolas rief
und pfiff, aber Perúss blieb verschwunden. Nicolas konnte sich sein Verhalten nur so erklären, dass ihm jemand ziemlich wehgetan
haben musste. Er sah Gonçalves in der Bürotür stehen und den Arm heben.
Verdreckt und verschwitzt wollte Nicolas weder in dem Szenerestaurant am Fluss noch im Gasthaus gegenüber um Wasser bitten.
In seinem Zustand passte er nur zu den |228| Bauern in der Dorfkneipe. Das Bier, das ihm die Wirtin auf Kredit verkaufte, war grandios. Man kannte ihn zu seiner Überraschung,
man wusste, wer er war:
o neto do Chico Alemão
, der Neffe von Chico Alemão.
»Ein Unfall«, sagte er auf Englisch.
»
Un acidente?
«, fragte die Wirtin. »
Com o seu automóvel
?« Er nickte, ja, mit dem Auto.
Was sie danach sagte, verstand er nicht mehr. Die ihm möglicherweise bekannten Wörter gingen im Kneipenlärm unter, aber es
fand sich jemand, der ihn in der hereinbrechenden Dunkelheit nach Hause fuhr. Nach Hause? So hatte er bislang nie über die
Quinta gedacht. Er sah von Weitem Licht in seinen Räumen, in denen außer ihm und Dona Firmina niemand etwas zu suchen hatte.
Die Quinta wirkte ein wenig wie eine Burg, die Terrasse davor wie ein Bollwerk.
Dona Firmina servierte das Abendessen mit einer Miene, als wäre Friedrich eben erst gestorben. Wusste sie etwas? Was war mit
ihrem Mann? Wo war er am Nachmittag gewesen? Und wer hatte im Obergeschoss Licht gemacht?
Als im Hause Stille eingekehrt war, trat Nicolas vor die Tür. Die Nacht war dunkel, der Himmel bedeckt, der Wind wurde kräftiger.
Plötzlich bemerkte er einen Schatten rechts von
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