Der Portwein-Erbe
die längst nicht mehr bewirtschaftet wurden, und
erreichte eine Zone mit abgestorbenen Weinstöcken auf ungepflegten Terrassen. Viele Stützmauern waren eingebrochen. Dazwischen
wucherte der Ginster, der mittlerweile verblüht war. Es waren so genannte mortórios, aufgegebene, tote Weinberge, auf denen
am Ende des 19. Jahrhunderts sowohl Pilzbefall wie auch die Reblaus gewütet und die Weinstöcke vernichtet hatten. Ein trauriger,
wenn nicht sogar schauriger Anblick. Als man der Methode folgte, Edelreiser auf reblausresistente Wurzelstöcke aufzupfropfen,
waren diese Weinberge nicht wiederbelebt und mit Oliven statt mit Wein bepflanzt worden. Aber mit Oliven ließ sich kaum Geld
verdienen. Die Lage Monte Amarelo hatte Friedrich erst im letzten Jahr gekauft und neu bepflanzen wollen. Benachbarte Lagen
zeigten dagegen gesunde Weinstöcke in drei oder vier Reihen nebeneinander. Sie wuchsen auf Terrassen mit Böschungen statt
mit Mauern. Ein Stück unterhalb des Feldwegs riss ein Bulldozer Stufen in den Berg.
Einen halben Kilometer weiter erreichte Nicolas eine Gabelung. Über die linke Abzweigung war ein rot-weißes Band quer über
den Weg gespannt, und ein Schild auf einem rostigen Dreibein zeigte an, dass die Durchfahrt verboten war. Wie musste dieser
Weg aussehen, wenn der rechte, dem Nicolas folgte, bereits eine Katastrophe war? Er erinnerte sich beim Weiterfahren an den
alten Schwarz-Weiß-Streifen ›Lohn der Angst‹, wo fünf mit Nitroglyzerin beladene Lkws durch den Busch gebracht werden mussten.
Soweit Nicolas sich erinnerte, war einer durchgekommen ...
Zum ersten Mal überhaupt schaltete Nicolas das Allradgetriebe dazu. Steine lagen im Weg, Brocken von der Mauer links, rechts
ging es bergab. Er rumpelte durch ausgefahrene Spuren, über Wurzelstöcke und von Erosion ausgespülte Rinnen. Dagegen war die
Piste zu seiner Quinta eine Autobahn. |225| Dieser Hang hatte sich längst der menschlichen Kontrolle entzogen. Der Kontrast zu dem jüngst angelegten Weinberg vor ihm
konnte kaum größer sein.
Da jaulte Perúss auf, es war fast ein Schrei, sprang mit einem Satz über Nicolas’ Schulter und quetschte sich zappelnd durchs
halb offene Fenster der Fahrertür. Nicolas verriss das Steuer, der Wagen geriet ins Schlingern, und erst jetzt sah Nicolas,
wie sich sein Horizont verschob. Die Weinberge rutschten aus unerfindlichen Gründen in die Waagerechte, gleichzeitig hatte
er das Gefühl, dass der Wagen schwamm und zur Seite kippte. Ihm war, als bewege sich das Fahrzeug in zwei Geschwindigkeiten,
die eine führte nach vorn, die andere drängte es zur Seite. Reflexartig griff er zur Tür, es war schwer, sie zu öffnen, da
er sie hochdrücken musste. Der Hund war längst draußen, als Nicolas den Absprung fand. Er landete in einer rutschenden Masse
aus Sand, Geröll und Wurzelstöcken. Alles glitt mit ihm den Hang abwärts. Unter ihm kippte der Wagen vollends um und überschlug
sich. Nicolas riss die Arme hoch, um sich vor Steinen zu schützen, und als er den Wagen wieder sah, kullerte er über eine
Terrasse und blieb darunter auf dem Dach liegen. Wie gelähmt, mit weit ausgestreckten Beinen und Armen, den Körper halb vom
Geröll bedeckt, lag Nicolas auf dem Rücken und starrte dem Wagen nach. Der Hang war zum Stillstand gekommen.
Nicolas jedoch stand unter Strom. Es war eine Erregung, die ihn beinahe ohnmächtig werden ließ. Das Adrenalin war in Augen
und Ohren, unter der Schädeldecke und in den Fingerspitzen, in den Knien, und waberte die Wirbelsäule rauf und runter, sein
Herz raste. Erst als der Hund an seinem Gesicht leckte, kam er wieder zur Besinnung. Er befreite sich vom Sand, starrte entsetzt
auf den rechten Arm, der zum Glück nichts abbekommen hatte. Er griff nach dem Hund und zog ihn an sich.
Nicolas’ Kopf war leer, das Entsetzen ließ keinen Gedanken |226| zu. Nach einer Weile stand er auf. Er dachte nichts, sah an sich herunter, klopfte Staub und Erde aus den Kleidern und kletterte
mit zittrigen Knien abwärts. Es war schwierig, auf dem abschüssigen Hang bis zum Wagen zu kommen, immer in der Angst, irgendwo
Brocken loszutreten. Er brauchte seine Jacke mit der Brieftasche und dem Mobiltelefon, sie lag auf dem Rücksitz, aber er kam
nicht ins Wrack hinein. Langsam dämmerte es ihm, dass er zerquetscht worden wäre, wenn er den Absprung nicht geschafft hätte.
Auch die Wasserflasche im Wagen blieb unerreichbar. Der Rückweg würde
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