Der Portwein-Erbe
philosophierend durch die Weinberge marschiert, hat unsere Weine probiert, den Leuten zugesetzt und immer
nur kritisiert.«
»Soweit ich weiß, ist das die Aufgabe eines
provadors
. . .«
Dona Madalena überhörte den Einwand geflissentlich. »Und er hat dafür kassiert – und nicht zu schlecht. Er hat unten, in dem
alten Haus, sogar noch ein Zimmer. Du musst dir überlegen, wie du es demnächst nutzt, vielleicht hast du ja eine Freundin,
die mal für länger kommen wird und dann dort wohnen kann. Ich will dir nichts vormachen, Frederico hat eigentlich nie von
dir gesprochen. Deshalb hat mich die Regelung im Testament sehr gewundert. Andererseits ist es schön zu wissen, dass man jemanden
aus der Familie gewonnen hat, besonders bei einem so entsetzlichen Verlust.« Sie schaute nach unten und legte eine Hand über
die Augen, aber doch so, dass ihr Augen-Make-up nicht verschmierte.
Für Nicolas war es eine zu melodramatische Geste. Ihre Gefühle hinsichtlich Otelos teilte er nicht, er war an ihm interessiert
und nicht am Gerede über ihn. Auch für die Familie würde sich später Zeit finden. Ihm machte der Wein Sorgen, die Angst, Fehler
zu machen, wuchs. Aufgaben bauten sich auf, von denen er keinen Schimmer hatte. Der Druck der Realität nahm zu. Je mehr er
einstieg |219| und sich einließ, je vertrauter er sich mit dem Wein machte und je besser er die Vorgänge in der Kellerei begriff und die
Weinberge zeichnete, desto mehr wurde ihm seine Beschränktheit klar.
»Otelo kommt nicht wieder?«, fragte er und bemühte sich, seine Besorgnis darüber nicht deutlich werden zu lassen. »Ich war
an seinem Haus«, sagte er und erzählte von der Suche nach ihm. »Niemand weiß, wo er steckt.«
»Ich kann dir nicht helfen, und ich will gar nicht wissen, wo er steckt.« Nicolas ahnte, dass sie etwas anderes hatte sagen
wollen. »Er hat Frederico nie gutgetan. Er hat ihn aufgehetzt, er war ein Unruhestifter. Mit nichts war er zufrieden, weder
mit der Regierung noch mit den Menschen und dem Wein. Alles wollte er verbessern, das Niveau heben, wie er meinte. Überheblich.
Ich glaube, er hat seine Niederlage in der Politik nicht verkraftet. Im Grunde muss man mit solchen Menschen Mitleid haben.«
Nicolas erinnerte sich an Dr. Veloso, was Dona Madalena sagte, klang ähnlich, und er hielt den Mund. Und es stand in krassem
Gegensatz zu Pereiras Ansichten. Einmal mehr merkte er, wie wenig er sich auf die Einschätzung anderer verlassen konnte. Er
musste sich selbst ein Bild machen und dazu diesen Otelo auftreiben. Aber zuvor fragte er Dona Madalena, ob er sie zeichnen
dürfe. Er musste sie zeichnen, um auch sie zu begreifen, nur so drang er in die Tiefe vor, aber das verriet er besser nicht,
niemand mochte es, erkannt zu werden. Erst jetzt fiel ihm ein, dass er Sylvia nie gezeichnet hatte. Erstaunlich, wie man sich
vor Erkenntnissen drücken konnte. Er würde sie aus dem Gedächtnis zeichnen müssen.
Dona Madalena lächelte verhalten. »Eigentlich könnte es mir schmeicheln, aber ich bin dazu nicht in der richtigen Verfassung.
Ich glaube nicht, dass dich mein augenblickliches Gesicht inspiriert.«
Vom Verbleib Pachecas wusste sie nichts, sie wusste nicht |220| einmal, dass es unter Friedrichs Leuten einen Mann gegeben hatte, der Deutsch sprach.
»Gonçalves wird es wissen, dafür ist er zuständig. Ich habe mich nie um die Quinta gekümmert. Falls du Verständigungsprobleme
hast, helfe ich gern. Aber jetzt bin ich zu erschöpft, es regt mich alles zu sehr auf. Du gehst jetzt besser . . .«
|221| 11.
Schwimmende Berge
Der Bruch war verheilt, der Gips, der Nicolas’ Arm und die Hand ruhig gestellt hatte, wurde durch eine leichte Bandage ersetzt,
und ihm wurde Physiotherapie verordnet, was Nicolas als überflüssig erachtete. Physio-, Psycho-, Gruppen und Einzeltherapie
hatte er auf der Quinta bis zum Abwinken – und Arbeitstherapie auch. Auf dem Rückweg vom Krankenhaus fühlte er sich mit beiden
Händen am Lenkrad wesentlich wohler. Das kam ihm insofern entgegen, als er sich für den Nachmittag den Besuch einer entfernten
Weinberglage vorgenommen hatte. Die Parzelle lag in einer Zone, in der die meisten Weinberge nach der neuen Vinhaao-Alto-Methode
angelegt worden waren. Dort wurde auf Terrassen verzichtet, die Rebzeilen führten geradlinig den Hang hinauf. Das Gefälle
durfte nicht zu groß sein, da sonst die Gefahr eines Bergrutsches bestand, die bei Terrassen kaum
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