Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Titel: Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cordula Simon
Vom Netzwerk:
Gasprinzessin oder etwas Vergleichbares, was sie bestimmt nicht werden würde, und er hatte sie verlacht und gesagt: »Sicherlich, Primaballerina du.« Sie erhielt ihren Amerikano, schaufelte Zucker in die Tasse und nahm einen Schluck, der, weil das Getränk noch zu heiß war, im Hals brannte. »Sie sind so typisch russisch«, sagte die Kellnerin verächtlich, sie war nicht von dem kleinen Tischlein gewichen, Irina war die einzige Kundin im Lokal. »Ach?«, gab Irina zurück. »Ja, kennen Sie die Geschichte von dem Russen in Paris? Zu dem der Kellner sagt: ›Vy Russkij‹ und der Russe wundert sich, wie der Kellner erkannt haben könnte, dass er Russe war und dieser erklärt, dass es daran liege, dass er den Löffel in der Tasse mit dem Daumen festhielt.« Auch Irina hielt den Löffel mit dem Daumen. »Weil alle Russen Angst haben«, fuhr die Kellnerin fort, »dass der Löffel ihnen ins Auge sticht. Das nächste Mal, als er in ein ähnliches Café geht, sagt der Ober zu ihm ›Vy Russkij‹ und wieder fragte er, woran es zu erkennen gewesen sei, denn er hatte doch den Löffel aus der Tasse genommen. Und der Ober erklärte ihm, dass das schon richtig sei, aber er habe ihn in die Tasche gesteckt.« »Das ist nicht passiert«, hielt Irina dagegen. Die Kellnerin zuckte mit den Schultern, legte die Hände vor dem Bauch, vor der kleinen weißen gerüschten Schürze, die sie unter die Brust gebunden hatte, zusammen: »Sie sind nicht europäisch genug. Sie sind aus der Ukraine, nicht?« »Nicht europäisch genug? Nicht europäisch genug für Russland?« »Ihr Akzent hat sie verraten beim Bestellen, und dass sie sogar gestikulieren, wenn sie nur denken. Das sind ausreichend Hinweise. Und wir sind hier nicht in Ihrer Heimat. Hier ist man europäischer, es wird nicht ewig dauern, bis die Russen endlich aufhören, ihre Kinder Inna und Tolik zu nennen anstatt Kevin und Monique.« »Und Russland soll europäisch sein?«, gab Irina bereits etwas ungehalten zurück, aber die Kellnerin sagte mit der Ruhe, die zeigte, wie sicher sie sich dessen war: »Russland ist Europa. Die Ukraine nicht.« Endlich verließ die Kellnerin ihre Position neben ihr. Irina nippte an ihrem Kaffee, diesmal vorsichtiger, immer noch den Löffel mit dem Daumen festhaltend. Was sollte sie sich noch dafür interessieren, ob sie europäisch genug war oder nicht? Wenn Russland nun der goldene Westen sein sollte, war es ihr lieber, Ukrainerin zu sein. Sie ertappte sich selbst dabei, wie sie einige wenige Gesten ausführte, als würde sie laut sprechen. Die Sätze waren noch lebendig, wie Tolik noch lebendig war, wenn sie sich nicht selbst ermahnte. Lebendiger als sie selbst. Sie betrachtete die Finger, wie sie sie um die Tasse gelegt hatte. Sie waren blau, die Fingernägel waren blau, und wenn sie in den Spiegel sah, war sogar das Gesicht blau. Wenn sie sich nicht ermahnte, sich selbst nicht tadelte, war es Anatol, der sie rettete, wenn ihr Körper aufgäbe, sie wegtrüge, von ganz gleich wo, eine Hand an ihrem Rücken, die andere in ihren Kniekehlen, so kräftig war er und längst nicht gestorben, wenn sie sich nicht auf die Finger klopfte, auf die Gedanken klopfte, nicht auf den Armen, auf Händen hebt er sie und trägt sie weg. Und seine Freunde, mit denen er im Hof stand und sich laut unterhielt, rauchend standen sie in der Gruppe, würden sie nicht, wenn sie aus dem Fenster sah, belächeln, als wäre sie eine alte Hexe, eine Baba Jaga, die auf eine Gelegenheit wartete, ihn in einen Käfig zu sperren. Sie würden sie nicht ansehen, wenn sie jedem einzeln vorgestellt wurde, weil sie so wichtig für ihn war, als legte eine Katze einem eine tote Maus vor die Füße. Nun, wo es den Tolik, wie sie ihn sich vorstellte, nur mehr in der Vorstellung gab, waren einige Ängste zusammengeschrumpft. Sie winkte die Kellnerin zu sich, sie würde noch etwas zu essen bestellen und einen warmen Honigschnaps, Mjedovucha für die Mjedvedi, was die Honigfresser innen wärmt, denn die Sonne draußen vor dem Café, die im Spiegel gerade eben nicht zu sehen war, brachte nicht genug Wärme. Die Kellnerin nahm die Bestellung auf und sagte in ihrem gewohnt groben Ton: »Sie wissen, dass es eine Unart ist, herumzusitzen, zu warten, dass der Tag vorbeigeht.« So unfreundlich es auch klang, und so unschlüssig Irina war, ob es ein Satz war, an den man glauben konnte, oder ob die Kellnerin tatsächlich durch Irinas Stirn blicken konnte, oder ob sie nur versuchte, Irina, die momentan

Weitere Kostenlose Bücher