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Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)

Titel: Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cordula Simon
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natürliche Evolution sein. Wie künstlich sie wirkten. So künstlich wie Irina selbst sich immer fühlte, wenn sie Menschen, die fremde Familie oder die Arbeitskollegen, die leider zu viel wussten, versuchte glauben zu machen, alles sei großartig, sie habe ihre großartige Karriere, ihre großartige Familie, die großartige Liebe, und in der Arbeit fragte man sie, wann man ihre Familie endlich kennenlernen könne und die Familie fragte, wann man über ihre Arbeit etwas in der Zeitung lesen würde und sie selbst fragte, ob es nicht reiche, dass sie sagte: »Wir haben noch nicht geheiratet, es hat noch Zeit, sein Name ist Anatol.« Eine Altstadtfassade in Blau und Rosa im gefräßigen Salzwind. »Du bist so künstlich«, hatte ihr jemand gesagt, vielleicht hieß er auch Taras, vielleicht hieß er auch Anatol, »warum bist du so künstlich? Kannst du nicht natürlicher sein? Ach, weißt du, lass es, denn dann wäre das Natürliche gekünstelt …« Es wäre nur natürlich, gar nichts zu tun, es wäre gekünstelt, zu viel zu tun, es wirkte wie gekünstelte Natürlichkeit, dem Tun ein tatkräftiges Ende zu setzen. Sie hatte keinen Standpunkt mehr. Wann würde ein Licht angehen, das ihr sagte, ob sie richtig stand, wie sie so kindisch von einer ihrer Möglichkeiten zur nächsten hopste. Sie zeichnete eine entsprechende Grafik auf eine Serviette. Eines besser als das Zweite, besser als das Dritte, besser als das Erste. Ein kreisrundes bepfeiltes Etwas. Sie dachte im Kreis. Mindestens ein Hundekopf war da zu viel. Ein altes Experiment: Wie viele Köpfe verträgt der Hund? Vielleicht würde sie aus dem Verstandeszustand geraten, aber das war gleichzusetzen mit dem Warten auf den veränderten Zustand, und auch das wäre ein veränderter Zustand, aber das Hundeköpfchen hatte ohne Körper funktioniert, hatte sich die Nase geleckt, mit den Augen zum Lärm eines Hammers gezuckt. Der kopflose Körper war nutzlos gewesen. Anatols Kopf war es, war sie jetzt sicher, der nicht mehr gewollt hatte. Und sie hatte den Körper bearbeitet. Ein fruchtloser Acker. Der Körper des kopflosen Kakerlaken war noch fähig bis zu zwei Wochen zu überleben, bis er verhungerte, doch der menschliche Körper war dem hündischen zu ähnlich. Sie strich über die Buchstaben, die Oblomov sagten. Oblomov, die Untätigkeit als Lösung. Sie war zumindest gewiss nicht stolz und hatte auch keinen Stolz, der versuchte, sie zu retten.
    Endlich kam die Kellnerin, fragte: »Und was?« In der schroffen Art, wie es zu Zeiten des Kommunismus gleichgültig war und immerhin den Kellnern heute noch gleichgültig ist. Irina bestellte Kaffee. Einen Amerikano mit Milch.
    Vor Jahren hätte sie einen reichen Amerikaner heiraten können, einen alten reichen Amerikaner, der ihr auf der Deribasovskaja in einem der Cafés vorgestellt worden wäre und Fotos von seiner Villa, seinem Pool und seinen Enkelkindern hergezeigt hätte. Dann wäre sie schon jahrelang ohne Tätigkeit und vermutlich zufrieden damit. Sie träumte sich in die Vergangenheit, in Oblomovs Traum. Sie hätte den einfachen Weg wählen, oder sie hätte den Feministinnen beitreten können. Auch dafür wäre sie attraktiv genug gewesen, doch Feminismus war, als sie erst zwanzig gewesen war, ein unbekanntes, scharfbezahntes Maul gewesen. Heute wäre es nicht mehr möglich, sie war schon über dreißig. Da konnte man nicht auf die Straße gehen, wenn man nicht höchstens Mitte zwanzig war und optisch ansprechend genug, um die Aufmerksamkeit der Männer zu bekommen, die den Feminismus kennenlernen sollten. Dann wäre sie stolz, die Oblomovs der Welt bekehren wollend.
    Aber was war es denn, wovon sie geträumt hatte? Als Kind, vor Taras, vor der Wissenschaft, vor Anatol? Vielleicht hatten sie in der Schule darüber gesprochen und wie so viele Kinder hatte sie Kosmonautin geantwortet? Nein, das war nicht der Traum gewesen. Aber als sie in der Sandkiste spielte – mit wem nur?, mit dem Nachbarsjungen –, da hatten sie gewiss darüber gesprochen, zwischen knirschenden Sandkuchen, von denen sich immer wieder etwas in ihren Mündern fand, obwohl sie es natürlich vorzogen, sie zu backen und nicht zu essen. Wie war der Sand nur ständig in den Mund geraten, wo er die Zähne schliff und die Wangen wundscheuerte? Und was hatte er gesagt, wie hieß er überhaupt? Jakov. Er hieß Jakov und meinte, er würde dereinst Account Manager oder etwas anderes, was er anzunehmenderweise tatsächlich geworden ist, und sie hatte gesagt,

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