Der potemkinsche Hund: Roman (German Edition)
Satzteil, den er mit dem Wort »gestorben« im Bezug auf sich selbst versah, ein nebeliges Gebilde in der Landschaft, als handelte es sich trotzdem nicht um ihn. Oder vielleicht war er krank gewesen und niemand wollte es ihm sagen. Auf die Idee, auf dem Totenschein nachzusehen, kam er nicht. Sonst hätte er vielleicht bemerkt, dass man ihm einmal bereits zu viel Wasser gegeben hatte. Was war nur los mit der Totensammlerin? Wie konnte sie nur an ihm einfach vorbeigehen? Vielleicht wollte sie auch nur mit ihm tanzen. Aber auch die Bürokratie war nicht einfach vorbeigeschlichen. Die Beamterei tanzte an ihrer Stelle mit ihm, und schlimmer noch: führte.
Er hatte das Ende der Schienen nicht bemerkt und befand sich, als er aus der Erinnerung das nächste Mal aufblickte, vor einem unfertigen grauen Rohbau, dessen Treppe wie DNA -Stränge durch die Fenster sichtbar war. Ein Skelett mit stählernen Stacheln am Haupt, als könnten sie nachwachsen. Er hätte offenbar irgendwo abbiegen müssen, denn nach dem Kiever Stadtzentrum sah dies nicht eben aus. Also zurück, wenigstens ein Stück. Er hatte im Auto nicht geschlafen und spürte gerade in dem Moment die Erschöpfung eines unnötig zurückgelegten Weges. Anatol wandte sich mangels anderer Möglichkeiten um und sah diesmal, mit beiden, nicht nur mit dem linken, juckenden Auge, das gestern noch entzündet gewesen war, Čelobaka sitzen. Schwanzwedelnd ihn anzwinkernd und wacher wirkend als je zuvor. Der Hund konnte die Strecke aus Odessa kaum zu Fuß zurückgelegt haben, vielleicht war er mit einem Laster gefahren oder gar mit dem Zug, ein Schwarzfahrer. Anatol kniete sich hin, die Gelenke schmerzten, hielt dem Hund die Hand hin, und dieser rieb seinen Kopf daran, streckte sich noch einmal, den Hintern weit in die Höhe reckend, machte kehrt und lief Anatol voraus, so wie er es in Odessa die letzten Tage getan hatte. Verlangsamte aber, Anatol hielt es gar wieder für Mitleid mit seinem eigenen körperlichen Zustand, bald sein Tempo. Seit seinem Ableben war es nicht falsch gewesen, dem Hund zu folgen, und daher konzentrierte Anatol sich darauf, nur den Hund nicht aus den Augen zu verlieren, und tatsächlich schlugen Anatol, als er vom haarigen Hintern des Hundes das nächste Mal aufblickte, die überdimensionalen Kiever Denkmäler ins Gesicht. Plakate streckten sich quer über die Straße, eine Parade würde bald beginnen. Die große europäische Parade, zu der Delegierte aus allen großen ukrainischen Städten kamen, nur keine Westeuropäer. Parade konnte nur bedeuten, entweder Militär oder hopsende Teenager auf den Straßen, er bemühte sich also, so schnell wie möglich vor dem bald beginnenden Spektakel zum Amt zu gelangen. Kurz ging er noch in einen Supermarkt, ohne durch die Glastüren den Hund aus den Augen zu verlieren, und griff nach einem Deodorant, er hatte sich entsetzlich lange nicht mehr gewaschen und sein eigener süßlicher Gestank mischte sich mit dem Damendeo, das er als Erstes zu greifen bekommen hatte. Anatol stellte es ins Regal zurück und schnell, bevor die Angestellten ihn richtig bemerkt hatten, verließ er das Geschäft wieder. Hier hatte er nicht gesprochen und es war besser so. Schnell musste es weitergehen, immer dem Geruch des Hundes nach, und Anatol machte noch einen Schritt, obwohl er schon längst fiel. Wie eine Sanduhr zwischen den Ohren, die nichts auf Gravitation gab, nach oben und unten gleichermaßen rieselte, der gesamte Sand, den der odessitische Strand in sich hatte, der dort zurückgeblieben war, wie ihn die Touristen in ihren Schuhen mit nach Hause trugen, mit einem gelegentlichen Klirren der Muschelschalen unter ihren Sohlen, das durch seinen Kopf drang, bis all diese Laute vom Kläffen des Hundes abgelöst wurden, der Anatol, wie sein Kopf so am Boden lag, das Gesicht leckte. Er wusste nicht, woher die Kraft nehmen, um weiterzugehen, stemmte sich mit den Händen hoch, bemerkte endlich die Tauben, und andere Menschen beachteten ihn schon, wohl mehr weil er die Tauben so anstarrte, denn weil er umgefallen war. Das Brot war manchmal mehr für Tauben als für Menschen und Anatol stürzte sich dennoch darauf, etwas Unerhörtes, so unerhört wie Čelobaka, der auch hier wie am Sobornij Pložad durch das Taubenmeer tobte, sie erschreckte und verjagte und inmitten der Weißbrotstücke saß, die Zunge aus dem Maul hängend, mit dem Schwanz die Brotstückchen hinter sich teilte, wie ein Scheibenwischer. Und Anatol tat, was sein Hund ihm
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