Der Präsident
mittags hatte Christy Sullivan den Schönheitssalon im Nordwesten von Upper Washington verlassen. Nachdem sie einen Block weit gegangen war, betrat sie das Foyer eines Apartmenthauses und verließ es einige Augenblicke später wieder, allerdings in einen knöchellangen Mantel gehüllt, den sie in der Tasche gehabt hatte. Eine dunkle Brille verdeckte ihre Augen. Sie ging ein paar Blocks weiter und nahm dann die U-Bahn zum Metro-Center. Nachdem sie die U-Bahn verlassen hatte, schlenderte sie noch zwei Blocks weiter und verschwand in einer Gasse zwischen zwei Gebäuden, die noch dieses Jahr abgerissen werden sollten. Zwei Minuten später fuhr ein Wagen mit getönten Scheiben aus der Gasse. Collin saß am Steuer, Christy Sullivan auf dem Rücksitz. Dann war sie von Bill Burton an einem »sicheren« Ort verwahrt worden, bis der Präsident später am Abend zu ihr stoßen konnte.
Das Anwesen der Sullivans hatte man als perfekte Bühne für das Zwischenspiel gewählt, weil ironischerweise ihr Landsitz der letzte Ort war, an dem man Christy Sullivan vermutet hätte. Russell wusste außerdem, dass es gerade leer stand und die Alarmanlage kein Hindernis für ihre Pläne darstellte.
Russell ließ sich auf einem Stuhl nieder und schloss die Augen. Ja, sie hatte zwei der fähigsten Leute des Secret Service hier in diesem Haus. Und zum allerersten Mal bedauerte die Stabschefin diesen Umstand. Der Präsident persönlich hatte die vier Agenten, die ihn und Russell begleiteten, aus über hundert zu seinem Schutz abgestellten Männern für seine kleinen Abenteuer ausgewählt. Sie alle waren durch und durch loyal und höchst kompetent. Sie kümmerten sich um den Präsidenten und hielten den Mund, gleichgültig, was von ihnen verlangt wurde. Bisher hatte Präsident Richmonds Leidenschaft für verheiratete Frauen noch keine größeren Schwierigkeiten hervorgerufen. Doch die Ereignisse dieser Nacht stellten alles Bisherige in Frage. Russell schüttelte den Kopf.
Luther musterte das Gesicht. Es war ein intelligentes, attraktives, gleichzeitig aber auch sehr hartes Gesicht. Man konnte die Gedankengänge beinahe sehen, als sich die Stirn abwechselnd runzelte und glättete. Die Zeit verging, doch sie rührte sich nicht. Endlich schlug Gloria Russell die Augen auf und ließ sie durch das Zimmer wandern, studierte jede Einzelheit.
Unwillkürlich zuckte Luther zusammen, als ihr Blick über ihn hinwegstreifte wie ein Suchscheinwerfer über einen Gefängnishof. Dann schaute sie zum Bett und verharrte dort. Eine lange Minute starrte sie auf den schlafenden Mann. Danach trat ein Ausdruck in ihr Gesicht, den Luther nicht zu deuten vermochte. Es war eine Mischung aus Lächeln und Grimasse.
Russell stand auf, trat ans Bett und sah auf den Mann hinab. Ein Mann des Volkes; zumindest glaubte es das Volk. Ein großer Mann, ein Jahrhundertmann. Im Augenblick sah er nicht so groß aus. Mit gespreizten Beinen lag er halb auf dem Bett, die Füße berührten fast den Boden; für einen nackten Mann war das, gelinde ausgedrückt, eine peinliche Stellung.
Ihre Augen begutachteten den Körper des Präsidenten, wobei sie an einigen Stellen verweilten. Dieses Verhalten versetzte Luther in Anbetracht der Leiche auf dem Fußboden in Erstaunen. Er hatte Sirenen erwartet, Polizisten, Ermittlungsbeamte, Gerichtsmediziner und vielleicht sogar Pressesprecher, die hier überall herumschwirrten, während sich draußen die Wagenkolonnen der Journalisten stauten. Offenbar hatte diese Frau einen anderen Plan.
Luther hatte Gloria Russell auf CNN und den anderen wichtigen Sendern gesehen, unzählige Male in der Zeitung und einmal in Person bei einer Veranstaltung zum 4. Juli. Sie hatte einprägsame Gesichtszüge. Eine lange Adlernase zwischen hohen Wangenknochen war das Erbe eines Cherokee-Vorfahren. Das glatte, pechschwarze Haar fiel bis auf die Schultern. Die Augen waren groß und von so intensivem Blau, dass sie den tiefsten Stellen des Meeres ähnelten; zwei Seen, in denen Unvorsichtige und Unachtsame ertrinken konnten.
Langsam, leise, regte sich Luther auf dem Stuhl. Diese Frau vor einem schmucken offenen Kamin in einem antiken Ohrensessel im Weißen Haus zu sehen, wie sie über die jüngsten politischen Probleme dozierte, war eine Sache. Eine völlig andere Sache war es, sie dabei zu beobachten, wie sie durch ein Zimmer ging, in dem eine Leiche lag, und einen betrunkenen, nackten Mann anstierte, der als Führer der Freien Welt galt. Es war ein Schauspiel, das Luther
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