Der Prediger von Fjällbacka
in die Gesellschaft zu entlassen. Der religiöse Aspekt wurde vor der Öffentlichkeit allerdings heruntergespielt, weil die staatlichen Zuschüsse alles andere als sicher waren. Es gab immer Menschen ohne Gottesglauben, die sofort »Sekte« schrien, wenn etwas außerhalb dessen lag, was ihre plumpe Sicht auf die Religion zuließ.
Den größten Teil des Respekts, den man ihm entgegenbrachte, hatte er durch eigenes Tun erworben, aber er konnte nicht leugnen, daß ein Teil davon auch der Tatsache zugeschrieben werden konnte, daß sein Großvater Ephraim Hult, »der Prediger«, gewesen war. Zwar hatte sein Großvater nicht dieser Gemeinschaft hier angehört, aber sein Ruf war an der Küste von Bohuslän so weit verbreitet, daß er in allen freikirchlichen Gruppierungen Widerhall fand. Die rechtgläubige schwedische Kirche sah in dem Prediger natürlich einen Scharlatan, aber seinetwegen konnten sie sich ja darauf beschränken, sonntags vor leeren Kirchenbänken zu predigen, die freieren christlichen Gruppierungen brauchten von dieser Meinung nicht weiter Notiz zu nehmen.
Die Arbeit mit den Unangepaßten und Süchtigen hatte Jacobs Leben fast ein Jahrzehnt lang ausgefüllt, aber sie befriedigte ihn nicht mehr auf dieselbe Weise wie zuvor und konnte das Vakuum, mit dem er sein Leben lang gelebt hatte, nicht länger ausfüllen. Ihm fehlte etwas, und die Jagd nach diesem unbekannten Etwas erschreckte ihn. Er, der so lange gemeint hatte, auf festem Boden zu stehen, spürte nun, wie es unter seinen Füßen bedenklich zu schwanken begann, und es schauderte ihn vor dem Abgrund, der sich auftun und der ihn verschlingen konnte, mit Leib und Seele. Wie oft hatte er nicht, absolut sicher in seiner Überzeugung, oberschlau darauf hingewiesen, daß der Zweifel das wichtigste Werkzeug des Teufels sei, ohne zu ahnen, daß er sich eines Tages selbst damit herumschlagen müßte.
Er stand auf und wandte dem Jungen den Rücken zu. Er schaute aus dem Fenster, das auf den See hinausging, aber er sah nur sein eigenes Spiegelbild im Glas. Ein starker, gesunder Mann, dachte er ironisch. Das dunkle Haar trug er kurz, und Marita, die es ihm zu Hause stutzte, machte ihre Sache wirklich gut. Das Gesicht war fein geschnitten, hatte empfindsame Züge, ohne unmännlich zu wirken. Er war weder schmächtig noch sonderlich kräftig gebaut. Das auffallendste waren seine Augen. Sie waren von einem scharfen Blau und hatten die einzigartige Fähigkeit, zugleich sanft als auch durchbohrend zu blicken. Diese Augen hatten ihm geholfen, viele auf den rechten Weg zu bringen. Er wußte es, und er nutzte es.
Aber nicht heute. Die eigenen Dämonen machten es ihm schwer, sich auf die Probleme eines anderen einzustellen, und es war leichter, das, was der Junge sagte, in sich aufzunehmen, wenn er ihn nicht ansehen mußte. Er löste den Blick von seinem Spiegelbild und schaute statt dessen auf den See hinaus und auf den Wald, der sich meilenweit vor ihm ausbreitete. Es war so heiß, daß er sah, wie die Luft über dem Wasser vibrierte. Sie hatten den großen Hof billig erworben, weil er nach Jahren der Vernachlässigung total heruntergewirtschaftet war, und nach unzähligen Stunden gemeinsamer Plackerei hatten sie ihn renoviert und in den Zustand versetzt, in dem er heute war. Das Ganze war nicht luxuriös, doch alles wirkte frisch, sauber und behaglich. Die Abgesandten der Gemeinde ließen sich von dem Haus und der schönen Umgebung stets beeindrucken und ergingen sich darüber, welchen positiven Einfluß das alles auf die armen unangepaßten Jungen und Mädchen haben würde. Bisher hatte es nie Probleme bei der Bewilligung von Mitteln gegeben, und ihre Tätigkeit hier war in den zehn Jahren, die sie den Hof betrieben, bestens gelaufen. Das Problem existierte also nur in seinem Kopf, oder war es die Seele, die Schwierigkeiten machte?
Vielleicht war er, bei all der Belastung im täglichen Leben, an einer entscheidenden Weggabelung in die falsche Richtung geraten? Er hatte nie gezögert, die Schwester in seinem Haus aufzunehmen. Wer, wenn nicht er, würde ihre innere Unruhe lindern und ihren rebellischen Sinn beschwichtigen können? Aber sie hatte sich in dem psychologischen Kampf zwischen ihnen als überlegen erwiesen, und während ihr eigenes Ich mit jedem Tag stärker wurde, spürte er, wie die ständige Irritation seine eigene Grundlage untergrub. Manchmal erwischte er sich dabei, daß er die Fäuste ballte und dachte, daß sie eine dumme, einfältige Gans sei,
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