Der Prediger von Fjällbacka
tief durchzuatmen, um die Panik zu bekämpfen.
Es war kalt, und sie verstand mit einemmal, daß sie fast nackt war. Nur den Slip hatte sie noch an. Ihre Haut schmerzte an mehreren Stellen, und sie zitterte vor Kälte, hatte die Arme um den Leib geschlungen und die Knie zum Kinn hochgezogen. Das erste Gefühl der Panik wich jetzt einer Angst, die so stark war, daß sie zu spüren meinte, wie sie sich in die Knochen einfraß. Wie war sie hier gelandet? Und weshalb? Wer hatte sie ausgezogen? Alles, was ihr Gehirn darauf erwidern konnte, war, daß sie die Antwort auf diese Fragen vermutlich nicht wissen wollte. Etwas Schlimmes war ihr zugestoßen, und sie wußte nicht, was es war, wodurch sich die Angst, die sie lähmte, noch vervielfachte.
Ein Lichtstreifen offenbarte sich auf ihrer Hand, und sie hob automatisch die Augen zu dessen Quelle. Ein kleiner Lichtspalt zeigte sich in dem samtdunklen Schwarz, und sie zwang sich, auf die Füße zu kommen, und schrie um Hilfe. Keine Reaktion. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, die Lichtquelle zu erreichen, aber gelangte nicht einmal in ihre Nähe. Statt dessen fühlte sie, wie etwas auf ihr nach oben gewandtes Gesicht tropfte. Wassertropfen wurden zu einem Rinnsal, und sie spürte plötzlich, wie durstig sie war. Instinktiv öffnete sie den Mund, um das Getränk aufzunehmen, und schluckte gierig. Zuerst floß das meiste vorbei, aber nach einem Weilchen hatte sie die richtige Technik gefunden. Dann schien sich über alles ein Nebel zu legen, und der Raum begann sich zu drehen. Schließlich war da nur noch Dunkelheit.
Linda wachte ausnahmsweise zeitig auf, aber versuchte trotzdem, wieder einzuschlafen. Der gestrige Abend mit Johan oder die Nacht, wenn man pedantisch sein wollte, war spät geworden, und sie fühlte sich vor Schlafmangel fast ein wenig schwindlig. Aber zum erstenmal seit Monaten hörte sie Regen auf dem Dach. Das Zimmer, das Jacob und Marita für sie hergerichtet hatten, lag direkt unter dem Dachfirst, und das Geräusch des Regens auf den Dachziegeln war so laut, daß ihr war, als würde das Pladdern zwischen ihren Schläfen widerhallen. Gleichzeitig war das hier seit langem der erste Morgen, an dem sie in einem kühlen Raum wach wurde. Die Hitze hatte fast zwei Monate angehalten und diesen Sommer zum wärmsten seit hundert Jahren gemacht. In der ersten Zeit hatte sie die sengende Sonne willkommen geheißen, aber schon vor mehreren Wochen hatte das Neue seinen Reiz verloren, und statt dessen hatte sie es gehaßt, jeden Morgen auf schweißnassem Laken aufzuwachen. Die frische, kühle Luft, die jetzt unter den Dachbalken hereindrang, war deshalb um so willkommener. Linda warf die dünne Decke von sich und genoß die angenehme Temperatur. Völlig untypisch für sie, beschloß sie aufzustehen, bevor man sie aus dem Bett jagte. Konnte ja vielleicht mal nett sein, zur Abwechslung nicht allein zu frühstücken. Von unten hörte sie das Geklapper des Geschirrs, und so streifte sie einen kurzen Kimono über und steckte die Füße in die Pantoffeln.
In der Küche begegnete man ihrem frühen Eintreffen mit verwunderten Mienen. Die ganze Familie war versammelt, Jacob, Marita, William und Petra, und ihr gedämpftes Gespräch wurde abrupt unterbrochen, als sie sich auf einen der freien Stühle fläzte und sich ein Brot zu schmieren begann.
»Es ist nett, daß du uns ausnahmsweise mal Gesellschaft leisten willst, aber ich würde es begrüßen, wenn du dir etwas mehr anziehen würdest, bevor du runterkommst. Denk an die Kinder.«
Jacob war so verdammt scheinheilig, daß ihr übel wurde. Nur um ihn zu ärgern, ließ sie den dünnen Kimono ein bißchen auseinandergleiten, so daß man die eine Brust durch die Öffnung schimmern sah. Vor Wut wurde er weiß im Gesicht, aber aus irgendeinem Grund war er nicht fähig, den Kampf mit ihr aufzunehmen, sondern ließ sie gewähren. William und Petra schauten sie fasziniert an, und sie schnitt ihnen Grimassen, die beide in Kicherkrämpfen zusammensacken ließen. Die Kinder waren eigentlich richtig süß, mußte sie zugeben, aber Jacob und Marita würden sie wohl beizeiten kleinkriegen. Wenn die Eltern mit ihrer religiösen Erziehung fertig waren, hätten beide garantiert nichts mehr von ihrer Lebensfreude.
»Jetzt beruhigt ihr euch aber. Sitzt beim Essen ordentlich am Tisch. Nimm das Bein vom Stuhl, Petra, und setz dich wie ein großes Mädchen hin. Und du machst den Mund beim Kauen zu, William. Ich will dir nicht
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