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Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Titel: Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Wirsching
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ebenso zwangsläufig das eigene Profil verblassen. Inhaltlich näherten sich die beiden großen Lager daher immer weiter einander an. Eben dies aber entfremdete die stärker traditions- und milieuverhafteten Anhänger, «Linke» und «Wertkonservative», gleichermaßen. Mögliche Gewinne in der Mitte wurden daher durch den Verlust an Identität erkauft. Um so wichtiger wurden dann wieder die Rolle der Einzelpersönlichkeiten, die mediale Außenseite und der «Verkauf» der Parteipolitik.
    Ein Blick auf die Entwicklung der Mitglieder und Wähler verdeutlicht dies:
    Hauptamtliche Parteimitarbeiter im Vereinigten Königreich 1964–1998

    Quelle: Paul Webb, Political Parties in Britain, S. 27
    So verloren etwa in Deutschland die beiden großen Volksparteien, CDU und SPD seit 1990 kontinuierlich an Mitgliedern. Während die sozialdemokratische Anhängerschaft von über 943.000 Mitgliedern im Jahre 1990 auf 512.525 im Jahre 2009 zurückging, lauteten die entsprechenden Zahlen bei der CDU 789.609 im Jahre 1990, was einem historischen Höchststand entsprach, und 528.972 Ende 2008.[ 201 ] Selbst das britische Parteiensystem, das zumindest vordergründig das stabilste in Europa blieb, entkam entsprechenden Erosionserscheinungen nicht. So sank die Zahl der Mitglieder zwischen 1970 und 2001 in allen Parteien mehr oder minder drastisch. Während etwa die Labour Party 1970 noch über 680.000 Mitglieder zählte, waren es 2001 mit 361.000 nur noch wenig mehr als die Hälfte. Drastischer noch verlief der Einbruch bei den Konservativen, deren Mitgliederzahl binnen dreier Jahrzehnte von 2.150.000 (1970) auf 350.000 im Jahre 2001 abstürzte. Einen ähnlichen Rückgang – von 234.000 auf 90.000 verzeichneten die Liberalen bzw. Liberaldemokraten.[ 202 ] Mit diesem Rückgang verband sich freilich ein paradoxer Prozeß: Während nämlich die Zahl der hauptamtlich Beschäftigten in den Orts- und Regionalverbänden deutlich zurückging, stieg die Zahl der Parteifunktionäre in der Zentrale stark an.Nichts könnte die fortschreitende Zentralisierung und Professionalisierung der Parteiarbeit besser dokumentieren als diese Tabelle. Zugleich kann sie als Beleg für das schon von Robert Michels formulierte «eherne Gesetz der Oligarchie» gelten.
    Dies sind die Bedingungen, unter denen sich seit den 1980er/90er Jahren eine fortschreitende Fragmentierung und Polarisierung der westeuropäischen Parteiensysteme vollzog. Vor dem Hintergrund der abnehmenden Integrationskraft des traditionellen Parteiensystems gewannen alternative politische Handlungsoptionen an Bedeutung. Jenseits des repräsentativen Prinzips gehörten hierzu Aktionsformen der direkten Demokratie, aber auch juristische Wege, um bestimmte politische Ziele zu erreichen. Daneben entstanden auch neue Parteien, die sich dem Wähler stellten, in die Parlamente einzogen und die etablierten bipolaren Mehrparteiensysteme veränderten. Im wesentlichen lassen sich drei Typen von neuen Parteien unterscheiden, die zusammengenommen die etablierte westeuropäische Parteienstruktur nachhaltig veränderten.
    Bereits in den 1980er Jahren begannen sich die Grünen durchzusetzen, die teilweise aus den neuen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre, teilweise aber auch aus Abspaltungen von der traditionellen Linken hervorgegangen waren.[ 203 ] Ihre Programmatik richtete sich schwerpunktmäßig auf umwelt- und friedenspolitische Fragen, die Gleichberechtigung von Frauen sowie Probleme der sozialen Gerechtigkeit. Ihre stärkste Klientel fanden die Grünen unter den jüngeren und städtischen Wählerschichten, worin sich deutlich die Milieuverschiebungen der entwickelten westeuropäischen Gesellschaften widerspiegelten. Grüne Hochburgen bestanden in Deutschland, Österreich und in der Schweiz. Bei den Parlamentswahlen der 1990er und 2000er Jahre erreichten die neuen Parteien hier regelmäßig zwischen sechs und zehn Prozent der Stimmen, was ihnen zunehmendes politisches Gewicht verlieh. 1998 zogen nicht zufällig in Deutschland erstmals grüne Minister in eine nationale Regierung ein. In den skandinavischen sowie den Benelux-Ländern, in geringerem Maße auch in Frankreich, vermochten die Grünen ebenfalls eine gewisse innenpolitische Rolle zu spielen, die jedoch nicht an ihre Bedeutung in den deutschsprachigen Ländern herankam.
    Zweitens entstanden im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts neue regionalistische Parteien oder solche bereits bestehenden Parteien gewannen eine systemrelevante Stärke.[ 204 ]

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