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Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Titel: Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Wirsching
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Linken unter François Mitterrand, die zu einer Polarisierung innerhalb des französischen Parteiensystems führte. Anfang März 1984 erregte Le Pen durch ein Fernsehinterview Aufsehen, in dem er seine fremdenfeindliche Position nur wenig verklausuliert darlegte: «Ich liebe meine Töchter mehr als meine Kusinen, meine Kusinen mehr als meine Nachbarinnen, meine Nachbarinnen mehr als die mir Unbekannten und die mir Unbekannten mehr als meine Feinde. Ich liebe daher die Franzosen am meisten, das ist mein Recht; ich liebe die Europäer als nächstes, und in den anderen Ländern in der Welt liebe ich diejenigen am meisten, die Frankreich lieben und mit ihm verbunden sind.»[ 215 ] Bei anderen Gelegenheiten äußerte sich Le Pen sehr viel expliziter, so wenn er die Immigranten für Arbeitslosigkeit und Überforderung derSozialsysteme, Kriminalität und Geschlechtskrankheiten gleichermaßen verantwortlich machte. Dabei schreckte er auch vor rassistischen und biologistischen Metaphern nicht zurück.[ 216 ]
    Le Pens Invektiven, die sich ausschließlich gegen die außereuropäischen, vornehmlich aus (Nord-)Afrika stammenden Zuwanderer richteten, trafen eine Stimmung, die bis weit in die französische Rechte hinein reichte. Unter anderem bewiesen das die berühmt-berüchtigten Äußerungen, mit denen Jacques Chirac, Chef der Gaullisten und damals Bürgermeister von Paris, im Jahre 1991 die Öffentlichkeit skandalisierte: «Was wollen Sie, der französische Arbeiter, der mit seiner Frau erwerbstätig ist und die gemeinsam vielleicht 15.000 Francs verdienen, und der nebenan in seinem Sozialbau eine zusammengepferchte Familie sieht, mit einem Familienvater, drei oder vier Ehefrauen und zwanzig Gören, und der 50.000 Francs an Sozialleistungen erhält, natürlich ohne zu arbeiten …, und wenn Sie den Lärm und den Gestank dazu nehmen, dann wird der französische Arbeiter nebenan verrückt. Und dies zu sagen, heißt nicht, rassistisch zu sein.»[ 217 ]
    Weder Chirac, der 1995 im dritten Anlauf zum französischen Staatspräsidenten gewählt wurde, noch Le Pen schadeten sich mit ihren Äußerungen beim Wähler. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Jahre 1984 gelang dem Front National mit über elf Prozent der gültigen Stimmen der Durchbruch. Auch später dienten die – als weniger verbindlich betrachteten – Europawahlen den populistischen Parteien als Sprungbrett zum Erwerb nationaler Aufmerksamkeit. Für Le Pen jedenfalls markierten sie 1984 den Beginn einer dauerhaften, über zwei Jahrzehnte gesicherten Medienpräsenz, die sich auf regelmäßige zweistellige Wahlergebnisse stützte. Er nutzte dies zu einer ausgefeilten Kommunikations- und Provokationsstrategie, die sich stets an der Grenze des Skandalon bewegte und damit das runde Sechstel der französischen Wähler mobilisierte, das in seiner Reichweite lag.
    Seinen Höhepunkt erreichte Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen des Jahres 2002, als er im ersten Wahlgang den sozialistischen Kandidaten Lionel Jospin knapp bezwang und in die Stichwahl mit dem Amtsinhaber Chirac ging. Dies glich einer Demütigung der französischen Sozialisten, die sich erstmals in der Geschichte der Fünften Republik genötigt sahen, einen Kandidaten der Rechten zu wählen, um «Schlimmeres» zu verhüten. Trotzdem konnte Le Pen im zweiten Wahlgang seinen Stimmenanteil noch einmal steigern und erzielte mit über fünfeinhalb Millionen Stimmen beachtliche 17,8 Prozent.[ 218 ] Umgekehrt freilich ließ sich der zweite Wahlgang, in dem ein eher unbeliebter Chirac mit 82,2 Prozent den höchsten Stimmenanteil in der Geschichte der Präsidentschaftswahlen erhielt, auch als deutliches Plebiszit gegen Le Pen lesen.
    Von früheren rechtsextremen Bewegungen unterschied sich der Front National darin, daß er über eine diversifizierte Wählerschaft verfügte, welche die traditionellen
cleavages
überlagerte. Seine größte Anhängerschaft rekrutierte Le Pen in einem Gürtel, der sich von Nordostfrankreich über den Ostteil des Landes nach Süden erstreckte. Hier zeichnete sich der Front National wie alle populistischen Bewegungen durch seine Offenheit aus. Als typische
Catch all
-Bewegung fand er Anhänger in fast allen Schichten der Bevölkerung. In mittleren und größeren Städten, dort wo die Einwanderung ein erfahrbares lokales Thema darstellte, wo industrieller Strukturwandel und hohe Arbeitslosigkeit ihre Spuren hinterlassen hatten, erzielte Le Pen die höchsten Prozentzahlen. Seine Wähler

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