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Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Titel: Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Wirsching
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«Sorgenkind». Dies lag nicht nur an dem spektakulären, aber ephemeren Wahlerfolg der rechtsextremen, antiwestlichen, antisemitischen und rassistischen «Partei der ungarischen Wahrheit und des Lebens» (MIÉP). Mit ihren Parolen erreichte sie bei den Parlamentswahlen von 1998 immerhin 5,5 Prozent, versank danach aber ins Nichts. Vielmehr rückte die ursprünglich liberale Fidesz unter Viktor Orbán immer weiter nach rechts. Zunehmend mit populistischen Methoden arbeitend, siegte die Partei in den Parlamentswahlen von 1998. Orbán wurde erstmals Ministerpräsident, und es gelang der Partei, zur großen Sammlungspartei der Rechten zu werden.
    Infolge des Regierungswechsels von 2002, als Orbán durch eine Mitte-Links-Regierung unter der Führung der MSZP ersetzt wurde, eskalierte die Lage. Vor drastische Spar- und Reformaufgaben gestellt, erregte der sozialistische Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány im September 2006 Aufsehen. Mit einigen Monaten Verspätung wurde seine sogenannte «Lügenrede» ans Licht gebracht, in der er eingestand, die Wähler über das wahre Ausmaß der Haushaltsprobleme belogen zu haben. Als er kurz darauf im Fernsehen von «seit Jahren andauernden komplexen Lügen der politischen Klasse in Ungarn» sprach,[ 246 ] eskalierte die Stimmung. Geschürt von rechtsradikalen oder offen faschistischen Gruppierungen, kam es zu militanten Demonstrationen und offenen Gewaltakten. Höhepunkte waren am 19. September 2006 die Erstürmung des Gebäudes des öffentlich-rechtlichen ungarischen Fernsehens, Ausschreitungen bei den Revolutionsfeiern vom 23. Oktober 2006 und am 15. März 2007 zum Jahrestag der Revolution von 1848.
    In diesem Klima etablierte sich die 2003 in der Nachfolge der MIÉP gegründete, rechtsextreme Partei Jobbik (Partei für ein rechtes und besseres Ungarn). Indem sie eine bald berüchtigte paramilitärische Organisation aufmarschieren ließ, stellte sie sich offen in die faschistische Tradition der Pfeilkreuzler und trug damit maßgeblich dazu bei, die innenpolitischen Verhältnisse Ungarns zu destabilisieren. Programmatisch forderte sie insbesondere die «Wiedervereinigung der ungarischen Nation». Offener Antisemitismus und Feindschaft gegen die Sinti und Roma gaben dem Auftreten der Partei einen rassistischen Anstrich. Bei den Parlamentswahlen von 2010, die in einen Erdrutschsieg der FIDESZ mündeten, wurde Jobbik zum Erschrecken vieler Beobachter mit 16,7 Prozent im ersten Wahlgang zur drittstärksten Partei in Ungarn. Viktor Orbán, der erneut Ministerpräsident wurde, distanzierte sich zwar von den radikalen Forderungen derextremen Rechten. Aber mit der Verleihung der ungarischen Staatsbürgerschaft an alle Auslandsungarn beeilte sich das von FIDESZ mit Zweidrittelmehrheit dominierte Parlament, unmittelbar nach seiner Wahl eine der Kernforderungen von Jobbik zu erfüllen.[ 247 ]
    Die Sorgen vor rechtspopulistischen oder gar rechtsextremen Tendenzen in den postkommunistischen Ländern verschärften sich infolge der ungarischen Wahlen von 2010. Autoritäre Gesetze, die die Medien in ihren Freiheiten massiv beschnitten, bestätigten die Befürchtungen.[ 248 ] Wie in keinem anderen Land der EU wurden kritische Intellektuelle und die Opposition eingeschüchtert; und die neue, im April 2011 verabschiedete ungarische Verfassung erkannte zwar formal die Strukturen der Demokratie an, suchte sie aber mit klar rückwärtsgewandten, nationalistischen Inhalten zu füllen.[ 249 ] Andererseits wird die weitere Entwicklung abzuwarten sein. Immerhin lehrt das polnische Beispiel, wie rasch sich das Votum des Wählers auch wieder ändern, gleichsam rationalisieren kann. 2007 wurde die PiS samt ihrem Ministerpräsidenten Jarosław Kaczyński trotz oder gerade wegen ihres nationalpopulistisch-rabiaten Politikstils bei vorgezogenen Wahlen zum Sejm abgewählt. Stärkste Partei wurde die liberale «Bürgerplattform» (PO), Ministerpräsident ihr Vorsitzender Donald Tusk, der sich spürbar um eine Beruhigung der politischen Szenerie Polens bemühte. Und 2010, nach dem tragischen Unfalltod des Präsidenten Lech Kaczyński wurde nicht sein Zwillingsbruder, sondern mit Bronisław Komorowski erneut der Kandidat der PO zum Nachfolger gewählt.
    Diese Volatilität des Wählervotums war eine der Voraussetzungen für die Erfolge populistischer Politikstile. Und es ist unbestritten, daß sich die Wahlen der postkommunistischen Demokratien durch stärkere Flüchtigkeit auszeichneten als die westeuropäischen.

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