Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit
darzustellen. Als Fortuyn am 6. Mai 2002 von einem fanatischen Umweltschützer auf offener Straße ermordet wurde, geriet das Land in Aufruhrstimmung. Es kam zu gewaltsamen Übergriffen von Fortuyn-Sympathisanten, und bei den Wahlen eine Woche später triumphierte die «Lijst Pim Fortuyn» (LPF) mit 17 Prozent. Sowohl unter den Liberalen wie der Arbeiterpartei, aber auch den Christdemokraten zog die LPF scharenweise Wähler an. Damit wurde sie zur zweitstärksten Kraft im Lande und bildete mit den Christdemokraten eine Koalitionsregierung. Nur drei andere Parlamentswahlen hatten im Europa des 20. Jahrhunderts eine größere Verschiebung des Parteiensystems bewirkt, darunter die italienischen Wahlen von 1994.[ 234 ]
Das politische Erdbeben des Pim Fortuyn paßte in die Typologie desPopulismus. Binnen kurzer Zeit fiel die LPF in sich zusammen, ohne größere Spuren zu hinterlassen. Allerdings bleibt unsicher, wieweit der Populismus, der die 1990er und 2000er Jahre prägte, von der Generation seiner «charismatischen» Begründer abhängt. Zwar mußte in Frankreich ein alternder Le Pen bei den Präsidentschaftswahlen von 2007 schwere Verluste und mit 10,4 Prozent sein schlechtestes Ergebnis seit 1974 hinnehmen. 2010 kündigte er an, künftig nicht mehr für das Amt des Präsidenten zu kandidieren und sich auch vom Parteivorsitz zurückzuziehen. Allerdings scheint seine Tochter und Nachfolgerin, Marine Le Pen, in der Lage zu sein, an frühere Erfolge des Front National anzuknüpfen. Umfragen zufolge hätte sie im Falle von Präsidentschaftswahlen im März 2011 sensationelle 23 Prozent erreicht. Der Amtsinhaber Sarkozy lag mit rund zwei Prozentpunkten dahinter.[ 235 ]
Marine Le Pen nach ihrer Wahl zur Vorsitzenden der Front National in Nachfolge ihres Vaters Jean-Marie Le Pen 2011
Ähnlich offen ist die Situation der FPÖ in Österreich. Schon 2005 führten schwere Konflikte über die Frage der Regierungsbeteiligung zu einer Spaltung und zum Parteiaustritt Jörg Haiders. Dessen neue Partei «Bündnis Zukunft Österreich» (BZÖ) konnte die früheren Wahlergebnisse nicht erreichen, und auch die FPÖ blieb substantiell geschwächt. Als überdies Mitte 2010 immer mehr Details und Gerüchte über ein weitverzweigtes«Haider-System» aus schwarzen Kassen, steuerbetrügerischen Unternehmungen und korrupten Einflußnahmen auftauchten und «quer durchs Strafgesetzbuch» ermittelt wurde, war es mit der Solidarität vorbei. Die ehemaligen Haider-Anhänger fielen «wie die Skorpione» übereinander her.[ 236 ] Aber auch der österreichische Rechtspopulismus hat ohne seinen 2009 tödlich verunglückten Protagonisten offenkundig eine Zukunft. Jedenfalls erreichte die FPÖ bei der Wiener Landtags- und Gemeinderatswahl im Jahre 2010.26,2 Prozent der abgegebenen Stimmen und wurde damit zur zweitstärksten Partei. Solche Ergebnisse könnten signalisieren, daß sich der Rechtspopulismus dauerhaft und unabhängig von einzelnen charismatischen Führern im Parteienspektrum der europäischen Demokratien zu etablieren vermag.
West-osteuropäische Konvergenz?
Sank also im Westen das Vertrauen der Wähler in ihre demokratischen Systeme, während in Ostmitteleuropa die demokratische Chance und der Aufbau der Demokratie mit beiden Händen ergriffen wurden? Eine solche Diagnose wäre vorschnell; denn auch und gerade in den postkommunistischen Staaten stieg die Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen phasenweise in besorgniserregendem Umfang an. Vor allem in den frühen 1990er Jahren, im Kontext der schlechten Wirtschaftslage, eines fragmentierten Parteiensystems und noch unfertiger Institutionen, schien der demokratische Umbau gefährdet zu sein. Im November 1991 warnte überdies der Präsident des Europäischen Parlaments, der Spanier Enrique Barón Crespo, mit Blick auf Ausländerfeindlichkeit und rechtsextreme Tendenzen in Westeuropa vor einer genuin gemeineuropäischen Krise der Demokratie: «Die Westeuropäer sind in ihren eigenen Ländern Zeugen von Phänomenen, die denen in Ost- und Ostmitteleuropa gleichen. Demagogische Parteien nutzen irrationale Gefühle aus, um den Glauben zu bestärken, daß Minoritäten die Probleme, vor denen unsere Gesellschaften stehen, noch verstärken […]. Westeuropa sieht sich daher den gleichen Herausforderungen gegenüber wie Ost- und Ostmitteleuropa. Es ist lebensnotwendig, gemeinsame Lösungen für diese Probleme zu finden.»[ 237 ]
Tatsächlich gibt es, ungeachtet aller gravierenden
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