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Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit

Titel: Der Preis der Freiheit: Geschichte Europas in unserer Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Wirsching
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Aber die tiefere Ursache der Volatilität, nämlich mangelnde Parteiidentifizierung und mangelndes Vertrauen in die Parteipolitiker, glichen sich in Ost wie West. In Ost- wie in Westeuropa kennzeichnete die politische Anpassung an das neue Zeitalter daher eine fundamentale Paradoxie: Einerseits stieg die Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen deutlich an, und das Vertrauen in die bestehenden demokratischen Institutionen – politische Parteien, Regierungen und Parlamente – ging zurück. Andererseits hielt eine stabile Mehrheit der Europäer die Demokratie für die beste und im Grunde einzig realistische Regierungsform. Eine Alternative zu ihr bestand trotz aller Unzufriedenheit mit ihrer Praxis nicht. Dies galt trotz aller Unterschiede im einzelnen für Ost- wie Westeuropa gleichermaßen.
    1994 war die demoskopisch faßbare Demokratiezufriedenheit in den ostmitteleuropäischen Ländern deutlich geringer als in Westeuropa.

    Quelle: Richard Rose, William Mishler u. Christian Haerpfer, Democracy and its Alternatives. Understanding Post-Communist Societies, Baltimore/MY 1998, S. 100.
    Daß hier ein Protestpotential bestand, zeigte die Geschichte der 1990er und 2000er Jahre durchgehend. Solche Mißstimmungen bedeuteten aber keineswegs eine grundsätzliche Infragestellung der Demokratie. Auch in Osteuropa unterschieden die Befragten klar und deutlich zwischen dem politischen Ziel bzw. dem politischen Wert der Demokratie als solcher und der tatsächlichen Praxis der Demokratie im eigenen Land. Dem entsprach es, wenn 1994 auf die Frage, ob es besser sei, Parlament und Parteien abzuschaffen, nur eine Minderheit von einem Fünftel bis einem knappen Drittel der Befragten positiv antwortete. In der Tschechischen Republik stimmten 18 Prozent zu, in Polen immerhin 29 und in Ungarn 30 Prozent. Am höchsten war die antidemokratische Zustimmung in Weißrußland (37 Prozent) und in der Ukraine (44 Prozent).[ 250 ]
    Daß eine klar positive Korrelation zwischen Bildungsgrad und Demokratieorientierung bestand, kann nicht sonderlich überraschen. Je höher der Bildungsgrad, desto stärker war das Bekenntnis zu dem bestehenden demokratischen Regime.[ 251 ] Besonders interessant und kennzeichnend zugleich war dagegen, daß die eigene ökonomische Lage keinen übermäßigen Einfluß auf die Demokratieorientierung der Befragten ausübte.[ 252 ]
    Ganz offensichtlich mangelte es an orientierenden Alternativen für eine längerfristig antidemokratische Haltung, die sich zugleich als organisierte Macht in das Spiel der Kräfte hätte einschalten können. Zwar erzielten die postkommunistischen Parteien nicht unerhebliche Erfolge, aber nur einekleine Minderheit wollte wirklich zu einer kommunistischen Herrschaft zurück. Auch wenn die Unzufriedenheit mit den politischen Verhältnissen im eigenen Land in der ersten Hälfte der 1990er Jahre deutlich anstieg, so änderte dies am grundsätzlichen Bekenntnis zur Demokratie nichts.[ 253 ]
    Demokratiebekenntnis und Demokratiezufriedenheit in acht osteuropäischen Ländern 1993 (in v.H.)
Wie beurteilen Sie das Ziel, eine Demokratie in Ihrem Land einzuführen, in dem Parteien um die Regierungsgewalt konkurrieren?
Wie würden Sie die tatsächliche Praxis der Demokratie in Ihrem Land beurteilen?
Bin dafür
Bin dagegen
Positiv
Negativ
Bulgarien
56
21
25
45
Estland
51
16
29
33
Ungarn
54
13
24
45
Litauen
57
18
23
43
Polen
49
12
17
53
Rumänien
81
10
30
41
Rußland
49
21
19
57
Ukraine
40
20
12
56
N = 15.175
    Quelle: Geoffrey Evans u. Stephen Whitefield, The Politics and Economics of Democratic Commitment: Support for Democracy in Transition Societies, in: British Journal of Political Science 25 (1995), S. 485–514, hier S. 489 u. 497.
    Auch in allen westeuropäischen Ländern tendierte das öffentliche Image der politischen Parteien zu immer neuen Minuswerten. Das geringste Vertrauen wurde ihnen in Großbritannien und Deutschland entgegengebracht, im Jahre 2004 nur noch von zehn beziehungsweise elf Prozent der Stimmbürger. Dagegen erschienen die Parteien in Dänemark immerhin noch 32 Prozent als vertrauenswürdig: ein Spitzenwert in Europa; im EU-Durchschnitt lag die Vertrauensquote bei 16 Prozent. Damit fielen die Parteien weit hinter andere politische Institutionen zurück wie etwa die Polizei – der immerhin durchschnittlich zwei Drittel der Befragten vertrauten – oder selbst das Fernsehen, das erstaunliche 56 Prozent für vertrauenswürdig hielten.[ 254 ]
    Das Meinungsbild differenzierte

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