Der Preis des Lebens
kam Bork nun wie eine einsame Insel in einem Meer aus kratziger Wolle vor. Kalter Schweiß perlte plötzlich auf seiner Stirn. Einmal mehr glaubte er, eine schattenhafte Bewegung in den dichten Schwaden am Waldrand zu sehen, doch war er sich wieder nicht ganz sicher. Er überlegte fieberhaft, ob ihm seine Augen einen Streich spielten oder ob er dort wirklich mehrere Schattengestalten durch den Nebel huschen sah.
Dann erinnerte er sich an die Worte von Bürgermeister Flank am Nachmittag: Seid wachsam. Gebt lieber einmal zu viel Alarm, als einmal zu wenig. Bork nickte entschlossen und griff mit klammen, zitternden Fingern nach dem Horn an seinem Gürtel, ehe er es mit einer fahrigen Bewegung zum Mund führte und kräftig hineinblies.
Der tiefe Ton des Jagdhorns hallte laut und klar durch den Nebel. Es klang wie das Klagen eines verwundeten Auerochsen.
Zu beiden Seiten der Plattform über dem Tor setzte Gemurmel ein. Da nahm Bork ein weiteres Geräusch wahr, das ihm als einem der besten Jäger des Dorfes nur allzu vertraut war.
Das Zischen durch die Luft fliegender Pfeile.
Nur wenige Augenblicke später drang links und rechts ersticktes Keuchen aus dem Nebel, manchmal gefolgt von einem Poltern. Das Glühen von Dicks Pfeife, das Bork eben noch gesehen hatte, erlosch von einer Sekunde auf die nächste.
Bork blies noch einmal kräftig in sein Horn, als er von einem plötzlichen Ruck nach hinten gerissen wurde und hart gegen das rückseitige Geländer der Plattform prallte. Die Luft wurde aus seinen Lungen gepresst, während sich ein brennender Schmerz in seiner Schulter ausbreitete, durch seinen Oberarm flammte und schließlich die Hand erreichte, wo das Horn Borks kraftlosen Fingern entglitt. Der Jäger spürte etwas Warmes seinen Arm hinablaufen, der gefühllos an seiner Seite baumelte. Mühsam richtete Bork sich auf und stieß sich vom Geländer ab, um an die Frontseite der Plattform zu stolpern. Er stützte sich auf die Balustrade und rutschte beinahe zur Seite weg, als sein eigenes Blut unter der Hand hervorfloss und das feuchte Holz noch glitschiger machte.
Der Nebel lichtete sich ein wenig, sodass Bork aus vor Schmerz zusammengekniffenen Augen nun auch die Umrisse von Männern auf Pferden erkennen konnte, die sich gegen die vertrauten Schatten des Waldrands abhoben.
» Die Söldner ... «, murmelte Bork mit brüchiger Stimme.
Wenigstens hatte sein Hornsignal seinen Zweck rechtzeitig erfüllt: Die meisten Männer des Dorfes kamen bereits bewaffnet aus ihren Häusern geeilt. Fackeln und Lampen wurden entzündet, Kinder, Frauen und Alte im Keller des Gockels in Sicherheit gebracht. Aufgeregte Rufe erfüllten die Nacht.
Da hörte Bork plötzlich erneut das Zischen.
Wenige Sekunden später traf etwas sein Auge. Sein Kopf schien vor Schmerzen zu explodieren. Er stolperte nach hinten und riss kreischend die Hände vors Gesicht.
Als sein Körper über das rückwärtige Geländer taumelte und in die Tiefe stürzte, war Borks Seele bereits an einem anderen Ort.
*
Narija erwachte mit hämmernden Kopfschmerzen. Trotzdem kehrten ihre Erinnerungen schnell zurück: An die beiden Grobiane, die sie auf dem Nachhauseweg von der Großmutter im Nachbardorf, die sie eine Woche gepflegt hatte, überrascht hatten; an den Krieger mit dem Narbengesicht, der sie aus den Klauen der Unholde gerettet hatte; und an den ...
Der Vampir! Narija schlug die Augen auf und erwartete fast, in das blasse, schmale Gesicht der Kreatur zu blicken, die sich mit spitzen Zähnen über sie beugte.
Doch der Vampir war nirgends zu sehen.
Lediglich der Krieger mit der schwarzen Halbrüstung und den blassen Narben im Gesicht saß ihr schweigend gegenüber.
Narija orientierte sich kurz. Sie befand sich in einer kleinen Höhle mit schrägen, zerklüfteten Wänden. Irgendwer hatte sie gewissenhaft in eine warme Decke gewickelt.
Diese Beobachtung beruhigte sie ungemein.
Hätten die Fremden sie töten oder als Vampirfutter missbrauchen wollen, hätten sie Narija nicht in eine flauschig-warme Wolldecke gehüllt, damit sie es möglichst bequem hatte.
»Hast du Hunger?«, brummte der Krieger plötzlich.
Narija nickte. Daraufhin griff der Mann nach einem Dolch, zerteilte einen gelben Apfel, den er aus einer Satteltasche nahm, und warf Narija eine der Hälften zu. Das Mädchen fing sie ungeschickt mit beiden Händen auf.
»Danke«, murmelte sie verlegen. Während sie zögerlich in den Apfel biss, spähte sie in den hinteren Teil der Höhle.
Auch wenn diese nicht allzu tief
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