Der Preis des Lebens
Pferd saß, und entsprechend unsicher und steif gab sie sich auch.
Zwei Stunden vor Mittag bemerkte die junge Frau erstmals, dass ihr etwas an der Umgebung bekannt vorkam, die Abfolge von Büschen, Bäumen und verfilzten Dickichten einen vertrauten Eindruck machte. Kurz darauf deutete Narija relativ zielsicher in die Richtung, in der ihr Dorf lag.
Irgendwann, als die Bäume immer weiter auseinander standen und mehr Morgenlicht den von Farnen und irgendwelchen Ranken überwucherten Waldboden berührte, hörten die drei schließlich bereits das Dröhnen von Hämmern durch die Luft hallen.
»Sind deine Leute Frühaufsteher?«, fragte Visco über die Schulter gewandt nach hinten.
»Manche«, antwortete Narija zögerlich.
Vor ihnen zügelte Lorn sein Pferd. Visco ließ seinen Rappen neben dem Braunen des Jagam anhalten.
»Was hast du?«, fragte der Vampir skeptisch.
»Hörst du es nicht?«
»Das Hämmern? Also bitte. Ich bin nicht taub.«
Der grimmige Blick des Jagam richtete sich auf das Unterholz. »Was hörst du noch?«, fragte er leise.
Visco sah seinen Begleiter einen Moment lang verwirrt von der Seite an, ehe er die Augen schloss und sich konzentrierte. Routiniert tastete er die Umgebung mit seinen feinen Raubtiersinnen ab, suchte nach den Geräuschen des Lebens, dem Schlagen eines Herzens oder dem Pochen eines Pulses von außerhalb ihrer kleinen Gruppe.
Doch bis auf eine einsame Wühlmaus irgendwo vor ihnen sowie einen Eichelhäher in einer Baumkrone über ihren Köpfen, konnte Visco kein Leben in der näheren Umgebung ausmachen.
»Das ist in der Tat ungewöhnlich«, kommentierte er das Ganze mit einem Stirnrunzeln und öffnete wieder die Augen.
»Was habt ihr?« Narija, die umständlich an Viscos Rücken vorbei spähen musste, konnte nichts Ungewöhnliches erkennen.
»Nichts«, raunte Lorn, als sei dies Erklärung genug, und ließ sein Pferd langsam weiter auf den Waldrand zugehen.
»Ich höre nichts«, wiederholte die verwirrte Narija in Viscos Rücken und klammerte sich wieder an den Vampir, als dessen Rappen sich anschickte, Lorns Braunem zu folgen.
»Genau das ist das Problem. Es ist viel zu still hier.«
»Der Herbst kommt dieses Jahr früh«, suchte Narija laut nach einer Erklärung.
»Das ist es nicht.« Visco schüttelte leicht den Kopf; sein Zopf kitzelte Narija im Gesicht. »Lorn hat schon Recht. Irgendwas ist faul. Hier ist nicht mal ein Tier in der Nähe. «
»Woher willst du das so genau wissen?«
»Erfahrung.« Visco hatte nicht vor, Narijas brüchiges Vertrauen zu erschüttern, indem er ihr gestand, dass seine Zähne nicht die einzige Erinnerung an sein Unleben waren.
»Na ja«, fügte er daher lediglich mit einem Schulterzucken hinzu. »Wir werden bestimmt bald sehen, was dem Wald die Sprache geraubt hat.«
Er sollte recht behalten.
*
Ein gutes Dutzend Leichen und in etwa genauso viele Pferdekadaver lagen auf der freien Fläche zwischen dem Waldrand und dem Dorf im platt getrampelten, blutverschmierten Gras. Dort, wo sich einst wohl das Tor in der Palisade befunden hatte, klaffte nur noch ein großes Loch, von dem gekräuselte Rauchfähnchen aufstiegen und sich mit dem träge umherschwebenden Morgendunst vereinten.
Trotz der blutigen Allgegenwärtigkeit des Todes herrschte vor den schwelenden Überresten des Tores die hektische Aktivität eines Bienenstocks: Männer mit Werkzeugen eilten geschäftig umher, schlugen und bearbeiteten am Rand der Lichtung Baumstämme oder stutzten lange Bretter mit Äxten und Spalthämmern zurecht, während andere die verkohlten Überbleibsel des alten Tores mit Stemmeisen von der Palisade trennten und mit dicken Tauen und der Unterstützung zweier träge dreinschauender grauer Ochsen fortschafften.
Bevor Visco sie zurückhalten konnte, rutschte Narija ungelenk aus dem Sattel und rannte so gut ihr Knöchel es zuließ auf die Arbeiter zu. Unterwegs achtete sie peinlichst genau darauf, den Überresten von Mensch und Tier auszuweichen und in keine der großen Lachen geronnenen Blutes zu treten, auf denen Fliegen und andere Insekten wie Wasserläufer auf einem dunkelroten See hockten. Krähen flatterten krächzend zur Seite, als die junge Frau zwischen ihren Reihen hindurch rannte. Auf halber Strecke zwischen Waldrand und Zaun rief Narija den Männern etwas zu, woraufhin einige von ihnen ihre Tätigkeiten unterbrachen und der Rückkehrerin ein Stück entgegenkamen. Sie redeten aufgeregt auf das Mädchen ein, und auch Narija sprach schnell und unterstützte ihre Aussagen
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