Der Preis des Lebens
ungekämmte Haar und lächelte flüchtig. »Bring lieber die Pferde in den Stall und versorg sie, wie ich es dir gezeigt hab.«
Der Junge nickte eifrig, griff nach den Zügeln und führte die Tiere der Gäste seines Vaters mit pflichtbewusster Miene davon. Flank geleitete Lorn und Visco unterdessen zum Eingang des großen Bauernhauses, wo es warm und gemütlich war und nach frisch gebackenem Brot und Lauch roch. An einen kurzen Flur schloss sich eine Treppe, die ins obere Stockwerk führte, während der Rest der unteren Etage von einem einzigen großen Wohnraum und einer üppigen Speisekammer ausgefüllt wurde. Vor einem klotzigen Steinherd an der Westseite stand eine schlanke Frau mit einer braunen Schürze und rührte in einem Kessel über dem Feuer. Ein riesiger Tisch aus Eichenholz bildete das Zentrum des Raumes – und wohl auch des hiesigen Familienlebens.
»Wir haben Gäste, Liara«, sagte Flank beim Eintreten, ging zu seiner Frau und küsste sie sanft auf die Wange. Sein Tonfall und die vertraute Geste verrieten mehr, als die wenigen Worte wirklich aussagen konnten.
»Guten Tag, die Herren.« Flanks Frau griff kurz nach der Hand ihres Mannes und drückte sie fest, ehe sie sagte: »Setzt Euch schon mal. Ich bring gleich was.« Liara, deren schwarzes Haar schon erste graue Strähnen zeigte, bemühte sich um ein Lächeln, das die Augen allerdings nicht erreichte.
Dort gab es nur Platz für Furcht und Unsicherheit.
Flank und seine Gäste nahmen an dem großen Eichentisch in der Raummitte Platz. Die Frau des Bürgermeisters brauchte nicht lange, um den Kessel an einem schwenkbaren Holzarm aus den Flammen zu nehmen, damit sein Inhalt daneben in Ruhe weiter köcheln konnte. Anschließend stellte sie vor den drei Männern jeweils einen Holzteller mit einer dünnen Scheibe Schwarzbrot und einem Stück herzhaft riechendem Ziegenkäse ab; je ein kleiner Holzbecher mit dunklem, würzigen Bier aus einem kleinen Fass folgte.
»Greift zu, während ich erzähle«, meinte Flank.
Lorn hatte sich jedoch bereits die Lederhandschuhe ausgezogen und neben sich auf die Tischplatte gelegt, um mit mürrischem Gesicht Käse und Brot zu verspeisen.
Bürgermeister Flank brauchte ein paar Augenblicke, bis er bemerkte, dass er auf die Tätowierung auf dem Rücken der rechten Hand des Jagam starrte: Das schwarze Zeichen sah aus wie ein Armband, das zu weit nach vorn gerutscht war – eine schmale, verschlungene Symbol-Kette, die einmal quer über den Handrücken lief und am Gelenk verschwand. Die Hautzeichnung erinnerte Flank an zwei gehörnte Seeschlangen, die sich kampfbereit gegenüberstanden. Dadurch wirkten die beiden großen, gespiegelten Hauptschnörkel und die langen Schwänze der Linienschlangen bedrohlich, strahlten etwas Finsteres und Grimmiges aus, das zu dem Jagam mit dem fahlnarbigen Gesicht passte. Flank wusste jedoch aus Erzählungen, dass jeder Nachtjäger ein solches Symbol auf den Handrücken tätowiert hatte und es die meiste Zeit über verbarg, bis es benötigt wurde: Um im Dienste der Kirche und des endlosen Krieges gegen die Finsternis an einem Tor oder einer Tür – egal ob der eines Bauern oder Fürsten – Einlass und Unterstützung zu fordern etwa; oder um im Namen der Kirche spontan Recht zu sprechen und ein Urteil über Leben und Tod zu fällen ...
Flank schüttelte den Kopf und riss den Blick von dem schwarzen Hautzeichen los, das von einer hässlichen Brandnarbe genau in der Mitte zerteilt wurde.
Nach einem kräftigen – und scheinbar bitter nötigen – Schluck begann er dann bedächtig:
»Gestern Nacht wurde unser Leben umgekrempelt. Die Zufriedenheit und Sicherheit von drei Generationen ist nackter Angst gewichen. Und auch wenn ich es nicht gerne zugebe, so habe ich doch das Gefühl, dass der eine oder andere gar am Willen des Einen zweifelt.« Letzteres sagte er mit einem vorsichtigen, unsicheren Blick auf Lorns Jagam-Rüstung und den tätowierten Handrücken des Nachtjägers.
»Wir werden Euch nicht verurteilen, Bürgermeister«, ermutigte Visco den Grauhaarigen freundlich und griff mit seinen schlanken, bleichen Fingern nach dem Käse.
Flank nickte. Seine Hände spielten nervös mit dem Becher, der vor ihm stand; sein Essen rührte er nicht an. »Auch wenn es uns wie eine Ewigkeit vorkam, ist es doch schnell erzählt. Letzte Nacht standen einige der Männer wie immer auf der Palisade und hielten Wache. Wir anderen schliefen in unseren Betten. Plötzlich hallte ein Hornsignal durch die Nacht. Also
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