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Der Preis des Schweigens

Der Preis des Schweigens

Titel: Der Preis des Schweigens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Beverley Jones
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veröffentlicht war.
    Also hatte ich ihm zum dritten Mal in Folge erklärt, dass ich bis dato nur bestätigen könne, dass ein siebenundzwanzigjähriger Mann tot aufgefunden worden sei und die Ermittlungen »auf Hochtouren« liefen. Es sei noch zu früh, um mit Sicherheit sagen zu können, ob Mr Brockway unter zweifelhaften Umständen zu Tode gekommen sei.
    Wie immer protestierte Jack, dass er »etwas ganz anderes« gehört habe und es außerdem »im Interesse der Öffentlichkeit« sei, dass sie schnellstmöglich informiert werde. Bla, bla, bla.
    »Ich weiß leider auch nicht mehr, Jack«, entgegnete ich. »So leid es mir tut.« (Es tat mir natürlich nicht leid, aber die unterschwellige Botschaft, die ich damit vermittelte, war: Ich gebe nur weiter, was mir mitgeteilt wurde, weil ich eine unbedeutende kleine Pressereferentin bin, der niemand etwas sagt.) Und so drehten wir uns wie immer im Kreis, ein altbewährter Reigen. Ich weiß, dass du etwas weißt, und du weißt, dass ich es weiß.
    »Aber meine Deadline ist in einer Viertelstunde!«, jammerte Jack.
    »Kann nicht sein. Redaktionsschluss ist erst um zwölf.«
    »Ja, aber die Website! Auf der Website müssen die Meldungen ständig aktualisiert werden!«
    Jack flehte mich an, ihm zumindest inoffiziell zu bestätigen, dass der junge Mann sich erhängt hatte. Während ich mein Schweigen auf ihn wirken ließ, fing ich an, eine Packung Kekse aufzureißen. Fast konnte ich die Wut in ihm kochen hören.
    Ich war Jack noch nie begegnet, obwohl wir täglich miteinander telefonierten und ich inzwischen sein gesamtes Überzeugungsarsenal kannte: Er drängte und flehte, forderte und drohte, seufzte und schmollte. Manchmal schmeichelte er mir sogar. Ich wiederum hob die Augenbrauen und lächelte milde oder gab mich streng und unnachgiebig, während ich sparsame Informationshäppchen oder Versprechungen gewährte. Wir verhielten uns wie ein altes Paar, das seine Beziehung jeden Tag zu bestimmten Uhrzeiten auslebte, jede Woche aufs Neue. Der einzige Unterschied bestand darin, dass Jack mich auf jeden Fall wieder anrief, egal, wie unser letztes Gespräch verlaufen war und wie wütend ich ihn gemacht hatte, denn ich hatte, was er brauchte: Namen der Beteiligten, Zeitpunkt und Ort des Vorfalls, Zeugenaussagen, Automarken, Waffentyp, Beschreibung der Tatverdächtigen, O-Töne oder Nachrufe von Familienmitgliedern, Fotos der Toten und Verdammten, der Bloßgestellten und Verurteilten – kurz, ich hatte die Fakten.
    Meine Stimme war mein Machtinstrument, ich war der telefonische Zugang zur Pressestelle der Polizei von Cardiff, einer sterilen, weiß gestrichenen, klimatisierten Dekontaminierungszone, in der Blut und Gewalt und Trauer abgewaschen wurden, bis die mir vorliegenden Informationen öffentlichkeitstauglich waren und an die Presse weitergegeben werden konnten. Mithilfe weniger Mausklicks konnte ich den Journalisten die gewünschten Auskünfte beschaffen, wenn ich es für richtig hielt. Im Moment hielt ich es nicht für richtig. Nicht bei Jack.
    Wie üblich saß ich aufrecht und aufmerksam auf meinem Schreibtischstuhl, in einer schicken schwarzen Hose, einem eleganten engen Oberteil und einer cremefarbenen Strickjacke. Dazu trug ich niedrige Absätze, einen straffen Pferdeschwanz und dezenten Lippenstift. Ich ließ mich nicht aus der Fassung bringen, blieb aufreizend höflich und gab die freigegebenen Informationen an verzweifelte Journalisten weiter, die ihre Deadlines näher rücken sahen, während ich mir die glänzenden hellen Ponyfransen aus dem Gesicht strich. Kurz, ich war der Inbegriff von Professionalität und Fairplay.
    Von Jack hatte ich nur einmal ein Foto gesehen, das neben einem geschmacklosen Artikel über Teenager-Selbstmorde abgebildet gewesen war, den er an den Guardian verkauft hatte. Er war etwa dreißig, gut aussehend und großspurig.
    Während er weiter auf mich einredete, starrte ich sehnsüchtig auf ein ausgedrucktes Foto, das ich neben meinem Computermonitor an die Wand gehängt hatte. Darauf war ein wunderschöner Strand in New England abgebildet, mit hellgelbem Sand, strahlend blauem Himmel und einem ruhigen, entrückten Meer. Im Vordergrund sah man einen niedrigen weißen Palisadenzaun und einen weißen Leuchtturm, und die untergehende Sonne tauchte den Strand in ihr warmes rötliches Licht. Ein krasser Gegensatz zu der immer eisiger werdenden Kälte im Büro. Ich stellte mir vor, dass ich am Strand stand und aufs Meer starrte, in dem Jack wild

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