Der Priester
anstarrte, war ihr neu. Das konnte er nicht spielen. Ausgeschlossen.
Eigentlich wollte sie dann sofort wieder gehen. Doch sie stand wie angewurzelt da, als ob ihre Schuhe ausgerechnet mitten im rappelvollen Marco Pierre White’s am Boden klebten. Die Hälfte der Gäste, die sie von allen Seiten anstarrten und sich verstohlen flüsternd über ihrem Mittagessen anstießen, waren Journalistenkollegen, verdammt noch mal. Was in Gottes Namen hatte sie geritten, das ausgerechnet hier zu machen?
»Hören Sie, Siobhan. Das geht wirklich nicht. Das ganze Restaurant sieht uns an wie ein paar Volltrottel. Oder noch schlimmer. Ich denke, Sie sind mir hier und jetzt eine Erklärung schuldig.«
Oh mein Gott …
Erst ein paar Stunden später kam Mulcahy darauf.
Er war sich sein Mittagessen holen gegangen, kam mit einem Caffè Latte in der einen und einem Sandwich in der anderen Hand wieder zurück und brütete darüber, wie er am Vorabend bei Siobhan angerufen hatte, um ihr zu erzählen, was er von ihr hielt. Erschöpft und mit zu viel Wein nach einem weiteren Takeaway-Abendessen war er von ihrer Mailbox begrüßt worden. Erst hatte er keinen Ton herausgebracht und aufgelegt. Ich denke, wir sollten uns nicht wieder treffen, hatte er ihr stattdessen als SMS geschickt. Und diese Handlung beschämte ihn jetzt jedes Mal, sobald er daran dachte. Das war nicht nur feige gewesen, sondern auch noch verdammt großkotzig.
Das war Mulcahy im Kopf herumgegangen, als ihm aus dem Nichts heraus etwas einfiel. Vollkommen unerwartet. Es ging um das, was dieser alte Sergeant, Brennan, ihm vorhin am Telefon erzählt hatte. Über einen jungen Burschen namens Rinn. Er war sicher gewesen, dass er den Namen Rinn vorher schon einmal irgendwo gesehen hatte. Er hatte ihn gelesen. Er hatte sich das Hirn zermartert, war aber nicht draufgekommen.
Als er zum Harcourt Square zurückkam, ging er zuerst in Brogans Büro. Sie war nicht da, doch die Kartons mit den Akten standen noch da, wo er sie zuletzt gesehen hatte. Allerdings stand auch ein Bote daneben, der sie gerade auf einen Rollwagen packen wollte. Er war ein kleiner, zerbrechlich wirkender Mittfünfziger, der seine Glatze mit ölglänzenden Strähnen zu verdecken versuchte.
»Das sind doch die Kartons, die zurück ins Archiv sollen, oder?«, fragte er Mulcahy mit einem so breiten Dubliner Akzent, dass man ihn unter Denkmalschutz stellen müsste.
»Wenn Ihnen das so gesagt wurde«, antwortete Mulcahy. »Aber einen Moment noch. Ich muss da eben noch etwas nachgucken.«
Der Bote schnalzte missbilligend und verzog das Gesicht. Inzwischen hatte Mulcahy ein Drittel der Akten aus einem Karton auf dem Boden ausgebreitet. »Hören Sie, kann ich die jetzt mitnehmen oder nicht?«
»Es dauert nur eine Minute«, beteuerte Mulcahy. »Ich weiß, was ich suche, sobald ich es sehe. Warum rauchen Sie nicht eine oder so was, während Sie warten.«
»Ach, ich weiß nicht so recht.«
Mulcahy steckte schnell die Hand in die Tasche und zog seine Packung und das Feuerzeug heraus.
»Hier, gehen Sie rüber ans Fenster. Das wird niemand erfahren.«
Der Mann nickte, sah sich zur Sicherheit noch einmal um, nahm dann die Zigaretten und stellte sich vor das offene Fenster. Mulcahy hob den letzten Aktenstapel heraus und hatte sie endlich in der Hand. Er erkannte sie sofort: eine ockerfarbene Mappe mit Notizen der vorherigen Empfänger auf der Vorderseite und ein paar kurzen Loseblatt-Berichten drinnen. Fall Nr. 6B420703 SSA : Coyle/Temple Road, D6, 03/08/09. Im Statusfeld war das handgeschriebene »Aktiv« mit einem roten Eingestellt -Stempel entwertet worden.
Er schlug die Mappe auf, fing an zu lesen und erinnerte sich schnell an weitere Einzelheiten. Er überflog die erste Seite. Mrs C. Coyle war von der Luas-Straßenbahnhaltestelle in Milltown nach Hause gegangen … überfallen … in einen Garten gezerrt … Schreie alarmierten den Hausbesitzer und Passanten … Angreifer floh … Opfer erlitt Abschürfungen … zerrissene Kleidung. Er blätterte weiter bis zum Ende und entdeckte das, wonach er gesucht hatte. Zwei Blätter mit der Überschrift »Zeugenaussage«.
Die erste Aussage war von dem Hausbesitzer, einem Mr Quigley, der den Angreifer verjagt hatte. Darin entdeckte er nichts Auffälliges. In der zweiten hatte er es. Ein Taxifahrer sagte, er hätte im Vorbeifahren Schreie gehört und wäre zu Hilfe gekommen, worauf er auf den Hausbesitzer gestoßen war, der sich um das Opfer kümmerte. Vom Angreifer war
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