Der Priester
Haustüren wurden zusätzlich gesichert, so dass sämtliche Schlösser in den Baumärkten ausverkauft waren, und in den Anrufsendungen im Radio meldeten sich viele junge Frauen, die erzählten, dass sie vor Angst kaum schlafen konnten. Siobhan selbst äußerte sich in der Sache eher zurückhaltend. Sobald sich eine Gelegenheit ergab, wies sie darauf hin, dass der Täter nur zwei Mal zugeschlagen und nie jemanden zu Hause angegriffen hatte – soweit es bekannt war. Das nützte jedoch alles nichts. In der Stadt war Hysterie ausgebrochen, und es gab kein Anzeichen dafür, dass die bald wieder abflauen würde. Was sollte sie da machen? Sie konnte nur auf der Welle mitschwimmen.
Der Erfolg hatte auch seine Schattenseite. So aufregend und schmeichelhaft die ganze Aufmerksamkeit auch war – die Tatsache, dass alle Welt sich an Siobhan Fallon wandte, wenn sie irgendetwas über den Priester wissen wollte, brachte ein ganz eigenes Problem mit sich: Sie wusste nichts Neues mehr zu sagen. Und immer wieder die gleichen Dinge zu wiederholen, war einfach langweilig. Glücklicherweise konnte sie jede Menge Munition daraus gewinnen, dass sie immer wieder die schrecklich hohe Zahl nicht angezeigter Sexualverbrechen in Irland anprangerte und die schändliche Unterfinanzierung dieses höchst sensiblen Bereichs der Verbrechensbekämpfung kritisierte.
Jedes dieser Worte kam aus dem Herzen. Wenn man die Fakten aufdeckte, sprachen sie für sich. Und sie verbrachte jede freie Minute damit, mehr zu erfahren, ging Statistiken und Regierungsberichte durch, sammelte Informationen von jedem Missbrauchszentrum im Land und parierte die Anrufe von Experten und Wissenschaftlern, die sich förmlich darum rissen, in einem ihrer Artikel namentlich erwähnt zu werden. Manche waren auch durch und durch bösartig, warfen ihr Ignoranz und Niedertracht vor. Na ja, diese Reaktion kannte sie schon von anderen Artikeln. Und sie wollte schließlich nicht das Sprachrohr für jede Frau im Land sein. Das sollten lieber die Sozialwissenschaftler und Dozenten draußen in Belfield machen. Nein, diese Sache war ihr aufgebürdet worden. Durch Zufall war sie an etwas Größeres als eine einfache Story geraten. Und sie würde so lange bohren, bis sie die Sache bis auf den letzten Tropfen ausgequetscht hatte.
Es war aber verdammt anstrengend, und in den letzten beiden Tagen war sie kaum zum Nachdenken gekommen. Jetzt, auf dem Rückweg von Heffernans Büro zu ihrem Schreibtisch, war ihr Kopf wieder randvoll mit Dingen, die sie erledigen musste. Doch zuerst würde sie sich eine private Genugtuung verschaffen und Vincent Bishop eine E-Mail schicken, in der sie ihm mitteilte, wohin er sich seine dämliche Plattenspielernadel stecken konnte. Seit Sonntag hatte er diverse Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassen, etliche SMS und E-Mails geschickt. Erst Glückwünsche, dann quengelnde, kurze Texte, warum sie sich nicht meldete – als ob das nicht offensichtlich wäre. Nicht zuletzt, weil sie keine Zeit mehr für alles andere außer der Arbeit hatte. Und dann, gestern Abend, als sie nach dem Questions and Answers- Triumph bei RTE nach Hause gekommen war, hatte ihr Telefon geklingelt, sie war rangegangen, weil sie – naiv und dumm wie sie war – erwartet hatte, dass ihr jemand gratulieren wollte, und hatte es wieder gehört, das Kratzen und Rauschen der Schallplatte, worauf der verfickte Roy Orbison begann, ihr dieses Mal Love Hurts ins Ohr zu jaulen.
»Oh, es wird verdammt wehtun, wenn Sie nicht endlich damit aufhören«, hatte sie in den Hörer gebrüllt – die Drinks, die sie nach der Sendung im Green Room von RTE getrunken hatte, hatten offensichtlich nicht zu größerer Gelassenheit beigetragen. Doch Roy hatte einfach weitergesungen, bis sie den Hörer auf die Gabel geknallt hatte. Das war das Eigenartige daran: Es schien vollkommen egal zu sein, ob sie ans Telefon ging oder nicht. Die Platte lief einfach weiter. War überhaupt jemand am anderen Ende der Leitung? Sie drückte auf Rückruf, aber natürlich war die Nummer unterdrückt. Weil sie sich dreckig und erschöpft fühlte, hatte sie sich dann ein Bad einlaufen lassen, sich in der Wanne die Spätnachrichten im Radio angehört und den Anruf fast vergessen.
Jetzt jedoch, mit der Gehaltserhöhung in der Tasche und ihrem Selbstbewusstsein auf einem absoluten Rekordhoch, war es an der Zeit, die Sache ein für alle Mal zu beenden, dachte sie. Bei der Publicity, die sie gerade bekam, war sie für gute
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