Der Priester
Street hinauf, die flatternde Jacke trotz des stetigen Sprühregens geöffnet. Ein Arm war tief in der Handtasche vergraben, wo sie nach ihrem Handy suchte. Sie war schon eine Viertelstunde zu spät. Normalerweise hätte sie einfach ein gewinnendes Lächeln aufgesetzt und dem Wetter die Schuld gegeben. Das reichte meistens. Aber sie mochte den Mann, und obendrein sprang vielleicht noch eine Story heraus. Sie scrollte die Anrufliste zurück, klickte auf seine Nummer, erreichte aber nur seine Mailbox. Es hatte keinen Sinn, ihm jetzt noch eine Nachricht zu hinterlassen. Also steckte sie das Handy wieder in die Tasche und beschleunigte ihren Schritt. Sie war ja auch fast da.
Drei Minuten später bog sie in die South Great George’s Street ein und überquerte sie zum Long Hall. Seit ihrem letzten Besuch hatte der alte, viktorianische Pub ein paar Schönheitsoperationen über sich ergehen lassen müssen, als hinter ihm ein riesiger neuer Bürokomplex entstanden war. Eine Zeitlang hatte es ausgesehen, als würde die gesamte Straßenfront mitsamt dem Long Hall abgerissen werden. In den Anfangstagen des Wirtschaftsbooms war das gang und gäbe gewesen. Kein Gebäude, ganz egal, wie bedeutsam es für Dublins Geschichte war, blieb damals länger stehen, als ein potenzieller Investor brauchte, um die Taschen eines Planungsbeamten mit Bargeld zu füllen. Trotzdem hatte der Long Hall tapfer überlebt, obwohl sein Inneres zweifelsohne noch immer so altersschwach war wie zuvor. Sie hatte gelacht, als er diesen Treffpunkt vorgeschlagen hatte. Es war kein Ort, um bei einer Frau Eindruck zu schinden.
Sie stieß die Tür auf, ging an der dunklen Mahagonitheke vorbei und ließ den Blick über die holzgetäfelten Wände mit den fleckigen, alten chinesischen Drucken wandern, über den kuriosen Obst-Stuck an der Decke und das verrückte Durcheinander aus Spiegeln und Kronleuchtern.
Sie sah ihn sofort. In eine Zeitung versunken, saß er mit ausgestreckten Beinen und markantem Kinn im Hinterzimmer an einem Tisch, auf dem ein kaum angetrunkenes Glas Guinness stand. Sie dachte ein paar Jahre zurück, als sie ihn in einer ähnlichen Haltung gesehen hatte, damals allerdings ohne Zeitung, ziemlich erschöpft und nachdenklich, nachdem er draußen in Clondalkin einen großen Drogendeal hatte auffliegen lassen. Sie war damals noch ein Reporterneuling gewesen, er bereits in einer Position, die Macht und Verantwortung mit sich brachte. Seine ruhige Entschlossenheit hatte sie tief beeindruckt. Und obwohl ihre eigene Stellung sich seitdem deutlich verändert hatte, verspürte sie auch jetzt wieder dieses Gefühl. Es traf sie wie ein Stromschlag.
Genau das gleiche Gefühl.
Als Mulcahy den Blick hob, um auf die Uhr zu sehen, stand sie vor ihm, umrahmt von dem verzierten, dunklen Holzbogen, der zu dem hinteren Barraum führte. Sie lächelte ihm zu. Es schien, als hätte der Regen es nicht gewagt, sie zu berühren.
»Tut mir wirklich leid, dass ich mich verspätet habe«, sagte Siobhan, und ein reumütiges Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Ich hab keinen Parkplatz gefunden.«
»Kein Problem. So konnte ich endlich mal gucken, was in der Welt so passiert.« Er faltete die Zeitung zusammen und wollte aufstehen, sie forderte ihn jedoch mit einer Geste auf, sitzen zu bleiben. Sie streifte schnell die Jacke ab, grub in ihrer Tasche nach dem Portemonnaie und hielt ihn so davon ab, für sie zur Theke zu gehen.
Er lehnte sich zurück, trank einen langen Zug von seinem Glas und sah ihr nach. Er mochte ihre schwarzen Locken, die über ihre Schultern herabfielen, die Bewegung ihrer Hüften unter dem weichen, schmiegsamen Baumwollrock, und die Art, mit dem sie den dümmlich-mürrischen Barkeeper zum Strahlen brachte, als sie einen Drink bestellte. Mulcahy hatte sie auf Anhieb gemocht, als sein alter Kumpel Mark Hewson – heute ein kleines Licht in Dublins PR -Kreisen – sie vor zwei Wochen bei einer Geburtstagsfeier vorgestellt hatte. Und er hatte sie sofort erkannt, obwohl viel Zeit vergangen war und sie nun eine andere Frisur trug. Wie ein Geist war die Erinnerung in ihm aufgestiegen, die Erinnerung an ein Bild, dessen Existenz ihm nie ganz bewusst gewesen war, das er aber trotzdem sofort wieder vor Augen hatte. Siobhan Fallon, die Journalistin, die ihn damals, vor vielen Jahren, als er sein erstes eigenes Team hatte, bei einem Einsatz begleitet hatte – einem Einsatz, dessen Erfolg sogar ihn selbst verblüfft hatte, weil dabei eins der größten Heroinlager
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