Der Priester
Wicklow Mountains kurzerhand abgekürzt. Ein paar Stunden später hatte er sie mit besorgtem Blick in einem Khakihemd, kurzer Hose und Wanderschuhen in den Räumen der Schule empfangen, die sich in den oberen Etagen eines viktorianischen Gebäudes an der Westmoreland Street befand.
Von seinem Büro aus konnte man durch ein kleines Fenster direkt auf die graue Liffey hinabblicken. An jedem anderen Tag hätte Brogan wahrscheinlich erst einmal in Ruhe die Aussicht genossen, doch jetzt konzentrierte sie sich ganz darauf, Harney eine Liste der ausländischen Schüler abzuringen, mit denen Jesica am Vorabend eventuell unterwegs gewesen sein könnte.
Danach hatten sie versucht, mit diesen Jugendlichen in Kontakt zu treten. Bei den ersten drei hatten sie kein Glück gehabt. Sie hatten Jesica am Abend zuvor nicht gesehen, erwähnten jedoch alle, dass sie mit dem jungen Mädchen, das derzeit bei Mrs Mannion wohnte, befreundet sei.
»Die hat uns angeguckt, als ob wir Scheiße an den Schuhen hätten«, murmelte Cassidy im Sessel gegenüber. Mrs Mannion hatte sich tatsächlich nicht sehr erfreut über ihren Besuch gezeigt. Brogan konnte es der Frau aber kaum zum Vorwurf machen, dass sie außer sich geriet, als die Gardaí plötzlich in der steifen und anständigen Orpen Close in Stillorgan vor ihrer Haustür standen und verlangten, mit einer Jugendlichen zu sprechen, über die sie vermutlich so gut wie nichts wusste, weil sie nur für die Dauer eines Sprachkurses bei ihr wohnte – und all das an einem Sonntagabend. Weiß Gott, was für Gedanken der Frau durch den Kopf gegangen waren.
»Psst«, sagte Brogan. »Sie kommen.«
Die Tür wurde geöffnet, und Mrs Mannion trat herein, gefolgt von einem hübschen, etwa sechzehn Jahre alten Mädchen mit olivfarbener Haut. Mit ihren langen, glänzenden Haaren, dem teuer aussehenden, rosafarbenen Oberteil, cremefarbenen Hüftjeans und den strahlend weißen Reeboks sah sie genauso aus wie all die jungen Spanier und Italiener, die Jahr für Jahr zu Tausenden von ihren Eltern nach Dublin geschickt wurden, um ihr Englisch zu verbessern. Das Mädchen machte einen nervösen Eindruck. Brogan nahm an, dass die Gastgeberin sie auf dem Weg die Treppe herunter schon einem kurzen Verhör unterzogen hatte.
»So, Inspector, das ist Luisa«, sagte die Frau und ließ sie stehen, während sie selbst Platz nahm.
»Äh, Sie brauchen sich nicht zu setzen, Mrs Mannion«, sagte Brogan. »Wenn Sie nichts dagegen haben, würden wir gern allein mit Luisa sprechen.«
Natürlich hatte sie etwas dagegen, nachdem aber geklärt war, dass Luisa sechzehn Jahre alt war und keinen Aufpasser brauchte, gingen Mrs Mannion die Argumente aus. Selbst der Vorschlag, dass sie »sozusagen in loco parentis « dabeibleiben könnte, zog bei den Polizisten nicht.
Brogan dankte ihr und wies noch einmal darauf hin, dass Luisas Englisch, wie Mrs Mannion selbst bestätigt hatte, überdurchschnittlich gut sei. Dann stand sie auf und schloss die Tür hinter der Frau. Sie lächelte Luisa zu, legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm und bat sie, sich aufs Sofa zu setzen.
»Keine Sorge, Luisa, du hast nichts falsch gemacht.«
Luisa lächelte schwach, wirkte aber nicht überzeugt.
»Du bist mit Jesica Salazar befreundet, richtig?«, fragte Brogan.
» Sí … ja, meine ich«, stammelte sie.
»Na, also, ich will dir keine Angst einjagen, aber Jesica hatte einen Unfall und liegt im Krankenhaus.«
Brogan ließ dem Mädchen einen Moment lang Zeit, sich den Satz im Kopf zu übersetzen. Nach etwa einer Sekunde zeigten sich gleichzeitig Schrecken und Verständnis in ihrer Miene.
»Was ist mit ihr?«
»Darüber brauchst du dir jetzt keine Sorgen zu machen«, warf Cassidy etwas rüde ein.
Das Mädchen sah Brogan ängstlich an.
»Aber es geht ihr doch gut, oder?«
»Natürlich, Luisa, sie ist in guten Händen«, wand Brogan sich heraus. »Trotzdem müssen wir dir ein paar Fragen stellen. Hast du Jesica gestern Abend gesehen?«
»Ja, klar.«
Brogan sah Cassidy an, der vornübergebeugt im Sessel saß. Die Müdigkeit war aus seinem Gesicht verschwunden.
»Bist du gestern Abend mit Jesica ausgegangen?«
»Ja, äh, wir waren zusammen tanzen in einem Club. Mit ein paar anderen Schülern.«
»Kannst du uns sagen, welcher Club das war?«
» Por supuesto … das GaGa. An der Kreuzung in Stillorgan. Kennen Sie den? Besonders gut ist er nicht, aber, äh, er ist gleich hier in der Nähe.«
»Beim Bowling Center?«, fragte Cassidy.
»Ja,
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