Der Priester
Verhaftung hatte sämtliche Gedanken an Rinn aus seinem Kopf verbannt und stattdessen allem Anschein nach ein Vakuum hinterlassen.
»Äh, ja, Mr Rinn. Vielen Dank für Ihren Anruf. Es geht um einen Fall, in dem Sie letztes Jahr eine Zeugenaussage gemacht haben. Ich würde gerne mit Ihnen darüber sprechen, wenn das möglich wäre.«
»Muss das wirklich sein?«, klagte Rinn. »Ich habe den Gardaí damals alles gesagt, was ich wusste. Das steht alles in meiner Aussage. Es hat sich doch seitdem nichts verändert, oder?«
Mulcahy ärgerte sich darüber, wie er das sagte. Er musste an Caroline Coyle denken, die fast in ihrem eigenen Haus zusammengebrochen wäre. Dann hatte er das Bild vor Augen, das Brennan beschrieben hatte: Ein junger Mann prügelt mit einem Backstein auf einen anderen ein.
»Ja, es handelt sich zwar um eine Routineangelegenheit, ist aber trotzdem erforderlich, Mr Rinn.« Er sah auf die Uhr. Vielleicht war das seine letzte Gelegenheit, in die Sache einzugreifen. Scheiß drauf, warum nicht?
»Hören Sie, ich bin in etwa einer halben Stunde bei Ihnen in der Gegend, Mr Rinn. Sind Sie dann zu Hause?«
Als er dieses Mal auf die Türklingel drückte, wurde er durch das Geräusch von Schritten belohnt, die ihm durch den gefliesten Flur entgegenkamen. Die Tür wurde geöffnet, und der Mann dahinter sah ganz anders aus, als Mulcahy erwartet hatte – Mitte bis Ende dreißig, knapp eins achtzig, schlank, rotblonde Haare und ein schmales Gesicht, das sich in erster Linie durch die Abwesenheit markanter Züge auszeichnete und auf Fotos zweifelsohne unscheinbar wirkte. Nach Brennans Beschreibung hatte er sich Rinn ganz anders vorgestellt – auf jeden Fall jünger. Das einzig Bemerkenswerte an diesem Mann war, dass er sich älter kleidete, als er war: Ein roter Rollkragenpullover hing über seiner dünnen Gestalt, dazu trug er eine recht abgetragene, hellbraune Kordhose und verschlissene braune Lederschuhe.
»Mr Rinn?«
»Steht vor Ihnen.«
»Ich bin Inspector Mulcahy. Wir haben vor einer halben Stunde telefoniert …«
»Ja«, sagte er und betrachtete den Dienstausweis, den Mulcahy hochhielt.
»Darf ich reinkommen?«
»Oh«, sagte Rinn, als hätte er überhaupt nicht damit gerechnet. »Ja, selbstverständlich. Kommen Sie herein.« Er ging zur Seite, und Mulcahy trat in den langen Flur. Der Fußboden war ein ausgetretenes Mosaik aus braunen und weißen Fliesen und endete vor einer breiten Mahagonitreppe, auf der ein abgenutzter, blassgrüner Läufer lag. Die Möbel im Flur waren altmodisch – dunkle, wuchtige Antiquitäten –, und die Gemälde und Bilder an den Wänden wirkten unnahbar und düster.
»Entschuldigen Sie, Inspector«, sagte Rinn. »Ich bekomme nicht viel Besuch. Sollen wir ins Wohnzimmer gehen? Von dort hat man einen schönen Blick in den Garten.«
Mulcahy folgte ihm in einen unwesentlich helleren Raum. Die Möbel wirkten nicht ganz so massig, der verzierte Marmorkamin und die ausgebleichten Seidenrollos mit Quasten und Fransen vermittelten eine gewisse Leichtigkeit. Eine Frauenhand schien an der Gestaltung dieses Raums beteiligt gewesen zu sein.
»Das ist ein schönes, großes Haus mit einem ebensolchen Garten, Mr Rinn«, sagte Mulcahy, trat an die offenen Flügeltüren und blickte auf die grün angelaufenen, breiten Stufen, die in den Garten hinunterführten. Von dieser erhöhten Position war er noch hübscher als bei seinem ersten Besuch. Nur der halbfertige Weg vor den Rabatten auf der linken Seite nahm etwas von der Eleganz.
»Ja, meine Großeltern haben es mir vererbt. Da habe ich großes Glück gehabt. Ich habe ein paar Jahre im Ausland unterrichtet und dabei nie auf großem Fuß gelebt. Und seit meiner Rückkehr wohne ich plötzlich in so einem Palast. Ich bin hier ziemlich viel unterwegs, weil sowohl das Haus als auch der Garten viel Arbeit machen. Aber das ist es wert. Nehmen Sie doch Platz.«
Mulcahy entschied sich für den Sessel, der am nächsten zum Fenster stand.
»Sie sagten, Sie hätten im Ausland gelebt?«
»Ja, bis vor ein paar Jahren.«
»Und jetzt wohnen Sie ganz allein hier?«, hakte Mulcahy nach.
»Ja, das ist richtig«, sagte Rinn. »Warum?«
Mulcahy zuckte die Achseln. »Es ist halt ziemlich groß für eine Person.«
Rinn sagte nichts dazu, also fuhr Mulcahy fort: »Wie ich am Telefon schon sagte, bin ich wegen des Überfalls an der Temple Road im letzten Jahr hier.«
»Ja«, sagte Rinn. »Hässliche Geschichte. Als ich Ihre Karte im Briefkasten
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