Der Priester
gefunden habe, hatte ich gehofft, dass Sie endlich jemand geschnappt haben.«
»Nein, leider nicht. Aber wir sehen uns den Fall noch einmal an. Ich habe mich gefragt, ob wir uns kurz über ein paar Einzelheiten Ihrer Aussage unterhalten könnten?«
»Warum nicht? Wobei ich nicht sicher bin, ob ich mich noch an alles genau erinnern kann, was ich damals gesagt habe.«
»Das ist kein Problem. Ich habe eine Kopie dabei.« Mulcahy klappte den Hefter auf. »Aber vielleicht sollten Sie es mir erst einmal so erzählen, wie Sie sich jetzt daran erinnern – vielleicht ist ja doch noch etwas Neues dabei.«
»Gut, wenn Sie meinen.« Rinn kratzte sich am Kopf und holte tief Luft. »Soweit ich mich erinnere, bin ich um die Zeit die Temple Road entlanggefahren. Es muss ziemlich warm gewesen sein, weil ich das Fenster offen hatte. Ich habe Schreie aus einem Garten gehört und, na ja, es klang, als wäre eine Frau in Schwierigkeiten. Also habe ich angehalten und bin zurückgerannt, bis ich im Vorgarten einen Mann und eine Frau gesehen habe. Die Frau saß zitternd und weinend auf dem Rasen, während der Mann vor ihr stand und versuchte, sie zu beruhigen.« Er schwieg einen Moment, als ließe er sich die Szene noch einmal durch den Kopf gehen, dann fuhr er fort: »Es war so dunkel, dass ich nicht genau erkennen konnte, was da los war. Also habe ich sie angesprochen, worauf der Mann sagte, dass die Frau überfallen worden war und die Polizei schon auf dem Weg ist. Ich kannte den Mann nicht, aber die Haustür stand offen und das Licht brannte, also nahm ich an, dass er dort wohnte. Ich habe ihn gefragt, ob er den Angreifer gesehen hat, und er sagte nein, der wäre wohl in Panik geraten und geflüchtet. Also habe ich mit den beiden gewartet, bis die Polizei und ein Krankenwagen da waren, und am nächsten Tag habe ich, wie man es von mir verlangte, im Garda-Revier in Rathmines eine Zeugenaussage gemacht. Und das ist auch schon alles, Inspector. Ansonsten habe ich leider nichts gehört oder gesehen.«
»Danke, Mr Rinn. Und als Sie der Frau zu Hilfe geeilt sind, ist Ihnen niemand entgegengekommen?«
»Nicht dass ich wüsste. Vielleicht ist er in die andere Richtung …«
»Das wäre dann die Richtung, aus der Sie mit Ihrem Wagen gekommen sind. Da haben Sie aber auch niemanden gesehen, oder?«
»Nein«, sagte Rinn.
»Es war sehr anständig von Ihnen, da anzuhalten.«
»Na ja, wie ich schon sagte, klang es so, als ob die junge Dame in Schwierigkeiten wäre.«
»Und seit Sie diese Aussage gemacht haben, ist Ihnen nichts weiter eingefallen? Manchmal erinnert man sich später noch wieder an etwas, vielleicht nur Kleinigkeiten, die aber …«
»Eindrücke, die man sich in Ruhe vergegenwärtigt?«, unterbrach ihn Rinn, trat vom Kamin an die offene Tür und sah in den Garten.
»Wenn Sie es so sehen wollen.«
»Nein. Ich habe damals lange und intensiv darüber nachgedacht. Der Vorfall hat mich sehr stark beschäftigt. Sie können sich vorstellen, dass solche Dinge hier nicht sehr oft passieren.«
Mulcahy starrte ihn an und fragte sich, wie intensiv und wie oft Rinn hinterher wohl darüber nachgedacht haben mochte.
»Ich hatte gehofft, Sie könnten mir etwas genauer beschreiben, wie Sie auf diesen Vorfall aufmerksam geworden sind, Mr Rinn. Anhand Ihrer Aussage ist mir das nicht ganz klar geworden.«
Rinn drehte sich um und sah ihn mit überraschter Miene an. »Nicht? Ich dachte, ich hätte das sehr deutlich gemacht.«
Mulcahy sagte nichts.
»Also, wie ich schon sagte, bin ich die Straße entlanggefahren.«
»Wohin? Und von wo sind Sie gekommen?«, hakte Mulcahy nach.
»Oh, daran kann ich mich leider nicht mehr erinnern, Inspector. Ich nehme an, dass ich von irgendwoher nach Hause gekommen bin.«
»Dann haben Sie nicht gearbeitet?«
»Gearbeitet?« Rinn klang überrascht. »Das war um zehn Uhr abends.«
»Viertel vor zehn«, warf Mulcahy hilfsbereit ein.
»Gut möglich«, sagte Rinn jetzt leicht gereizt. »Das Entscheidende daran ist allerdings, Herr Inspector, dass die Zeit keine Rolle spielt, weil ich sowieso nicht gearbeitet hätte. Ich arbeite nämlich nicht. Ich habe, wie gesagt, großes Glück gehabt. Meine Großeltern haben mich gut versorgt hinterlassen. Ich brauche nicht zu arbeiten, also tue ich es nicht.«
Jetzt war Mulcahy überrascht. »In Ihrer Aussage steht doch, dass Sie von Beruf Taxifahrer sind.«
Mulcahy hatte noch nie einen Unterkiefer so schnell herabfallen sehen. Dann fing Rinn an laut zu lachen.
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