Der Priester
anstellte – als Journalist vom alten Schlag würde er es vermutlich zuerst über sie an den Sunday Herald verkaufen wollen, um mal wieder groß rauszukommen.
Sie ignorierte das Angebot des Türstehers, ihr ein Taxi zu rufen, lief draußen die Treppe hinab und schnappte sich vor den Augen eines erschreckten Touristen selbst eins. Nicht einmal fünf Minuten später war sie wieder in der Nachrichtenredaktion und sah nach, was in Harry Heffernans Büro los war. Sie hatte Glück, die Konferenz ging länger als geplant – sie hörte noch dumpfe Stimmen durch die geschlossene Tür. Sie klangen erregt, vielleicht sogar so erregt, dass sie noch Zeit für eine kurze Recherche über diesen Richter hatte. Und über seinen Enkel, der jetzt … Mitte bis Ende dreißig sein musste. Wenn Gott es wirklich gut mit ihr meinte, war der Enkel ein Sprössling des väterlichen Familienzweigs. Hübsches Wort. Sprössling. Und in Dublin gab es bestimmt nicht viele Leute mit diesem Familiennamen.
Zum ersten Mal an diesem Tag spürte Siobhan, wie ein echtes Lächeln um ihre Lippen spielte.
19
Das Salazar-Anwesen nahm das ganze Obergeschoss eines majestätischen, historischen Gebäudes zwischen dem Palacio Real und der Oper ein. Mit dem gewundenen und geschwungenen Stuck, der wie weißer Zuckerguss in der Sonne gebacken wurde, erinnerte der riesige Bau Mulcahy unweigerlich an eine Hochzeitstorte.
»Dir ist schon klar, dass das nur die Zweitwohnung ist«, raunte Martinez ihm zu, als sie von einem Mann mittleren Alters in einem anthrazitfarbenen Anzug – der Tracht moderner Butler, wie Mulcahy annahm – in ein hübsch eingerichtetes Wohnzimmer geführt wurden. »Don Alfonsos Familie hat auch noch ein nettes Haus in der Nähe des Retiro«, fuhr er fort. Von der geschäftigen Stadt, die sie umgab, merkte man nichts. »Aber wie ich gehört habe, ist es derzeit an einen russischen Milliardär vermietet.« Er lachte. »Die Familienresidenz ist sogar noch beeindruckender. Das ist der Palacio Salazar auf dem Land, in der Nähe von El Escorial. Was auch zeigt, wie lange die Salazars hier in Spanien schon ganz nah am Zentrum der Macht sind.«
Mulcahy verstand, was er sagen wollte. Das alte Machtsystem, das auf Familienzugehörigkeit, Vermögen und Privilegien basierte, war in Spanien noch allgegenwärtig, selbst wenn es hinter dem jugendlichen, vertrauenerweckenden Gesicht versteckt wurde, mit dem sich die Nation der Welt am liebsten präsentierte. Er sah sich um. Der Raum war sparsam, aber elegant eingerichtet. Alles von den geschnitzten Holzmöbeln bis zu den hellen Wandbehängen strahlte eine etwas verblasste Eleganz aus, als ob schon der Gedanke an eine Modernisierung verachtenswert wäre. In diesem Moment schwang die Tür auf. Martinez war sofort auf den Beinen, strich sich mit einer Hand den Anzug glatt und ging auf den großen, schlanken Mann zu, der mit beschwingten, herrischen Schritten hereinkam.
Mulcahy erkannte ihn sofort aus den Medien. Don Alfonso Mellado Salazar. Er trug einen dunkelgrauen Nadelstreifenanzug, bei dem der Silberton der Nadelstreifen perfekt zu seinen Haaren passte. Er musste mindestens Anfang siebzig sein. Doch obwohl er nicht direkt vom Alter gezeichnet war, wirkte er doch etwas geschwächt. Sein dünnes, hohlwangiges Gesicht hatte etwas Falkenartiges und Gebieterisches an sich. Die silbernen Haare waren aus der breiten Stirn nach hinten gekämmt, darunter dominierten der hohe Nasenrücken, die eindringlichen, braunen Augen und die blassen, fleischigen Lippen. Seine Haltung war jedoch gebeugt und daher weniger furchteinflößend, als Mulcahy erwartet hatte.
»Don Alfonso, ich danke Ihnen herzlich, dass Sie uns in Ihrem Heim empfangen.« Martinez war sehr formell, fast schon unterwürfig, als er mit gesenktem Kopf und ausgestreckter Hand auf Salazar zuging. Salazar nickte, ergriff die angebotene Hand und schüttelte sie herzlich.
»Einen guten Tag wünsche ich, Javier. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen, sich persönlich darum zu kümmern.«
Obwohl er erst ein paar Stunden in der Stadt war, merkte Mulcahy, wie er sich in der Sprache wieder besser zurechtfand. Während des Mittagessens hatte er Martinez vorgeschlagen, dass sie ins Spanische wechseln sollten, und nachdem er etwa eine halbe Stunde mehr oder weniger gestammelt hatte, lief es nun wieder besser. Es reichte, um die Feinheiten des Gesprächs zu erfassen und überrascht festzustellen, dass sein Freund und Salazar sich mit Vornamen anredeten und
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