Der Priester
weiter, dachte er sich. Frag so lange, wie sie es aushält. Vielleicht würde ja trotzdem etwas dabei herauskommen. Er merkte jedoch, dass es ein langer, schmerzhafter Prozess werden würde.
Der Durchbruch erfolgte gegen halb fünf nachmittags. Nicht weil er oder Jesica etwas Bestimmtes gesagt hatten, sondern aufgrund einer Bemerkung der Psychiaterin, als sie und Mulcahy nach etwa vierzig Minuten, in denen sie so gut wie keine Fortschritte gemacht hatten, das Zimmer verließen. Den Tiefpunkt hatte sie kurz vorher erreicht. Er hatte Jesica die Fotos von Byrne gezeigt, die sie kaum ansah, bevor sie den Kopf schüttelte. »Ich hab Ihnen doch gesagt, dass ich nicht weiß, wie er aussieht«, sagte sie nur.
Daraufhin hatte Dr. Mendizabal vorgeschlagen, eine Pause zu machen.
»Manchmal«, sagte sie, als sie den Raum verlassen hatten, »schützt sich das Gedächtnis in solchen Fällen vor unerträglichem Leiden. Nur wenn wir einen Weg finden, diese inneren Verteidigungsanlagen zu umgehen, haben wir eine Chance, an das Trauma heranzukommen.«
»Und wie umgeht man die?«, fragte Mulcahy.
»Na ja, in der Klinik würde man es zum Beispiel mittels Hypnose oder Hypnotherapie versuchen. In einem Fall wie diesem wäre das durchaus der nächste Schritt. Dann können Sie dem Gehirn befehlen, die Verteidigungsschirme sinken zu lassen. Es ist faszinierend, was man in der Trance noch alles findet. Dinge, die hinterher auch bei der Heilung hilfreich sind.«
»Denken Sie, dass das auch bei Jesica funktionieren würde?«
»Es ist eine Therapieform, die ich auf jeden Fall noch einsetzen will.«
»Bestände die Möglichkeit, das jetzt zu versuchen?«
Die Psychiaterin runzelte die Stirn. »Es würde Ihnen nicht weiterhelfen. Ich weiß zwar nicht genau, wie es in Ihrem Land gehandhabt wird, aber hier in Spanien dürfen Aussagen, die unter Hypnose gemacht werden, vor Gericht nicht verwendet werden. Dafür gibt es reichlich Urteile und Präzedenzfälle.«
»Das wird in Irland nicht anders sein, Doktor, aber wenn wir mit den üblichen Mitteln sowieso zu keinem sinnvollen Ergebnis kommen, ist die Gerichtsverwertbarkeit vielleicht gar nicht entscheidend. Wenn wir Informationen bekommen könnten, die die Beteiligung unseres Verdächtigen unzweifelhaft belegen, werden die Ermittler schon einen anderen Weg finden, diesen Beweis zu führen. Verstehen Sie, was ich meine?«
Dr. Mendizabal dachte noch darüber nach, als Mulcahys Handy mit einem Piepton den Eingang einer SMS meldete. Er entschuldigte sich, trat einen Schritt zur Seite, öffnete sie und stellte überrascht fest, dass sie von Siobhan war.
Gestern Nacht wurde noch ein Mädchen entführt. Wird noch vermisst. Lonergan, Brogan etc. dementieren alles rundheraus. Ruf mich an!
Der Schock traf ihn wie ein unerwarteter linker Haken. Rinns Gesicht. Sofort hatte er ein Bild von Rinns Gesicht vor Augen, das die Leere in seinem Kopf ausfüllte. In der letzten Nacht hatte er zu grübeln angefangen, ob Rinn und Byrne womöglich als eine Art Team zusammengearbeitet haben könnten. Er hatte den Gedanken jedoch verworfen. Es hatte nie irgendeinen Hinweis darauf gegeben, dass an den Überfällen des Priesters mehr als eine Person beteiligt war. Mulcahy sinnierte immer noch darüber, als Dr. Mendizabal auf ihn zukam.
»Lo siento, Inspector, ist alles in Ordnung? Sie sehen etwas besorgt aus.«
»Ja«, war alles, was er sagte, bevor er sich daran erinnerte, mit wem er es zu tun hatte. »Doktor, haben Ihnen Jesicas Worte oder Reaktionen je den Eindruck vermittelt, dass sie von mehr als nur einer Person angegriffen worden sein könnte?«
Schon während er es sagte, fiel ihm ein, dass das Mädchen immer nur von einem Angreifer gesprochen hatte.
»Nein, niemals«, sagte die Psychiaterin. »Ich halte das auch für äußerst unwahrscheinlich, wenn man sich ansieht, was Jesica da angetan wurde. Es gibt zwar Sexualverbrecher, die als Paar zusammenarbeiten, das ist aber relativ selten. Und ich halte es für ausgeschlossen, wenn man sich Jesicas Verletzungen ansieht. Der Täter empfindet während so einer Tat keine Freude oder Lust, er lebt vielmehr einen Zwang aus. So etwas kann man auf psychologischer Ebene nicht mit einer anderen Person teilen. Diese Zwangshandlung kann nur die Person ausführen, die an der Zwangsstörung leidet. Sonst niemand. Können Sie mir folgen?«
Mulcahy nickte und versuchte, sich daran zu erinnern, was Siobhan von der Psychologin erzählt hatte, der sie ein paar Fragen geschickt
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