Der Prinz in meinem Maerchen - Roman
Teufel hat dich denn da geritten?«
»Ich liebe Dolly«, protestierte Anna. »Ich lese die Romane selbst jetzt gelegentlich noch einmal, wenn ich schlechte Laune habe. Das beruhigt ungemein.«
»Es beruhigt dich nur, weil du die Bücher mit sieben gelesen hast, als du dachtest, dass in allen Internaten mitternächtliche Partys stattfinden und dort Mädchen zur Schule gehen, die ihre Ponys mit in den Unterricht bringen! Und diese Bücher hast du ernsthaft einem Mädchen geschenkt, das sich nicht entscheiden kann, ob es zuerst zum Vorsingen bei X Factor oder bei American Idol antreten soll?«
»Ja«, erwiderte Anna kleinlaut.
»Du meine Güte.« Michelle nahm sich ihr Glas. »Solche Bücher stehen heute immer noch in der Kinder- und Jugendabteilung? Kein Wunder, dass die Kids heutzutage in keine Bücherei mehr gehen!«
Anna musste sich sehr zurückhalten. Die Stadtbücherei war ein ganz wunder Punkt. Ihr Job als Longhamptons stellvertretende Bibliotheksleiterin war massiven Stellenstreichungen zum Opfer gefallen, und das drei Wochen, bevor Sarah in die USA gezogen war. Die Abfindung war nicht übel gewesen, und Phil verdiente genug, um alle Rechnungen begleichen zu können, doch für Anna war diese Aufgabe mehr als nur ein Job gewesen. Sie hatte abendliche Buchclubs organisiert, Vorlesestunden in Seniorenheimen veranstaltet, Gruppen für Kleinkinder ins Leben gerufen – kurzum, sie hatte alles getan, um den Menschen Bücher näherzubringen.
»Für die Kinder- und Jugendabteilung war ich nicht zuständig«, erklärte sie steif. »Das war eine separate Stelle. Eine, die nicht gestrichen wurde.«
»Tut mir leid«, entschuldigte sich Michelle. »Aber hatten wir uns nicht darauf geeinigt, ab jetzt positiv zu denken? Um das alles hinter uns zu lassen?« Motivierend ballte sie die Hand zur Faust. »Wollten wir nicht diese Liste erstellen? Eine Liste mit Dingen, auf die wir uns im kommenden Jahr konzentrieren wollen?«
»Muss das sein?«
»Lass es uns jetzt tun.« Michelle nahm ihr stets griffbereites Notizbuch zur Hand. »Komm schon.«
»Ich habe kein Papier.«
»Ich hole dir welches. Betrachte es als zusätzliches Weihnachtsgeschenk.« Michelle eilte durch das Wohnzimmer, und Anna hörte, wie sie eine Schreibtischschublade öffnete, in der sich ihr nie versiegender Vorrat an ledergebundenen Notizbüchern befand.
Anna betrachtete niedergeschlagen ihr Weinglas. Sie hatte ja beinahe schon erwartet, dass Chloe in ihrem pubertären Alter mit Spott auf das Weihnachtsgeschenk reagieren würde; insgeheim hatte sie jedoch sehr gehofft, wenigstens Lily damit eine große Freude zu machen. Denn Lily sah immer so traurig und einsam aus, wenn sie sich unbeobachtet fühlte, und hatte bislang auch noch keine Schulfreundinnen gewonnen, mit denen sie hätte spielen können. Lily gab sich immer so viel Mühe, allen vorzugaukeln, dass es ihr gut gehe, auch wenn dies offensichtlich nicht der Fall war. Seitdem Anna lesen konnte, hatte sie sich nie mehr einsam gefühlt. Selbst wenn Lily sich weigerte, vor dem Einschlafen noch eine Geschichte vorgelesen zu bekommen, so hoffte Anna jedoch inständig, dass sie in dem Kinderbuchautor Michael Morpurgo oder in der Figur des Mr. Gum einen Freund finden würde.
»Kopf hoch, Anna!«, rief Michelle und legte ein Notizbuch vor ihr auf den Tisch. »Morgen fliegen alle nach Amerika, dann habt ihr zwei eine ganze Woche Zeit für euch. Wenn die Mädchen zurückkommen, werden sie jede Menge Geschichten darüber zu erzählen haben, dass ihre Mutter nicht kochen kann und amerikanische Schokolade nach Erbrochenem schmeckt. Und sie werden dich sofort fragen, ob du ihnen bei ihrer nächsten Projektaufgabe für die Schule hilfst.«
Anna stopfte sich ein weiteres Mince Pie in den Mund und ignorierte Pongos flehentlichen Blick. »Das werden sie nicht tun. Sarah hat sich in eine dieser Mütter verwandelt, die ihre Kinder als ihre ›besten Freundinnen‹ betrachtet. Wahrscheinlich werden sie ununterbrochen shoppen gehen. Sarah arbeitet jetzt in der Firmenzentrale in den USA, nicht in irgendeiner heruntergekommenen Zweigstelle in Longhampton – bei ihr wechseln sich also Power Meetings und Maniküretermine ab. Zudem hat sie wahrscheinlich viel Geld für kleine Überraschungen und Geschenke, das wir einfach nicht mehr zur Verfügung haben.«
»Dann lass sie doch.« Michelle sah Anna in die Augen. »Was tust du denn, während die Mädchen unterwegs sind? Für dich ?«
Anna atmete tief durch die Nase aus.
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