Der Prinz in meinem Maerchen - Roman
ihren Tagesablauf ändern würde. Zuerst eine Runde laufen, dann duschen, eine Kanne kenianischen Kaffees, gefolgt von zwei Gläsern Wasser, Haferbrei, To-do-Listen und schließlich einem heimlichen Blick auf die Klatsch- und Tratschseiten im Internet. Michelle gefiel es für gewöhnlich, die eingefahrenen Schienen ihrer Routine nicht verlassen zu müssen. Doch heute wollte sie nichts als raus aus dem Haus, falls ihre Mutter noch einmal anrufen sollte und ihr so lange ein schlechtes Gewissen einreden würde, bis sie schließlich doch nach Surrey hinunterfuhr, um dort ein nur noch schlechteres Gewissen zu bekommen.
Michelle joggte den verlassenen Pfad entlang, vorbei am silbergrau glitzernden Wasser des Kanals, in dem drei braune Enten vollkommen lautlos an ihr vorbeipaddelten. Schließlich bog sie nach links auf den Fußweg ab, der wieder in die Stadt hineinführte. Ihr Atem hinterließ weiße Wölkchen in der eiskalten Morgenluft, und sie spürte, wie das Blut frisch und heiß durch ihren Körper pumpte. Ein paar Hundebesitzer waren mit ihren Lieblingen unterwegs, und sie nickte denjenigen zu, die sie kannte – Juliet, Annas Tiersitterin mit ihrem Jack Russel Terrier und dem schokoladenbraunen Labrador, sowie ein altes Ehepaar mit seinem gräulichen Dackel, die alle drei in Wachsjacken gekleidet waren.
Michelles Laufroute führte sie an vornehmen georgianischen Herrenhäusern vorbei, die beide Seiten der Straße säumten, hin zu den viktorianischen Reihenhäusern in der Nähe des Stadtkerns. Währenddessen hakte sie in Gedanken die Liste der Straßen des Dichterviertels ab – die Tennyson Avenue, die Wordsworth Road und die Donne Gardens. Dies hier war die Gegend, in der ihre Idealkunden wohnten, und sie hielt gern im Blick, was hier passierte. Während sie an den Häusern vorbeijoggte, spähte sie in die Fenster hinein und entdeckte tatsächlich ein paar ihrer filigranen silbernen Dekosterne sowie einige der Lichterketten für den Außenbereich, die innerhalb einer Woche ausverkauft gewesen waren. Dies verlieh ihr einen zusätzlichen Energiekick, als sie den Hügel zum Stadtzentrum hinauflief.
Am Ende der Worcester Street angelangt musste Michelle eine Entscheidung treffen: Entweder lief sie nun nach rechts auf die Hauptstraße oder nach links und dann um den Park herum. Normalerweise würde sie sich niemals für die Hauptstraße entscheiden, doch heute war kaum eine Menschenseele unterwegs. Zudem ließ ihr ein Gedanke keine Ruhe mehr, seit sie die Milton Grove hinter sich gelassen hatte, wo in jedem Wohnzimmerfenster entweder ein brechend volles Bücherregal oder gleich eine ganze Bücherwand zu sehen gewesen war. Michelle selbst war kein Bücherwurm, wenn man einmal von den Kunstbildbänden absah, die sich in ihrem Wohnzimmer befanden und die sie wirklich liebte. Sie hatte sie auf ihrem Fußhocker der Größe nach sortiert und arrangiert. Doch Annas Interesse an Quentins Buchhandlung hatte in Michelle die Frage geweckt, ob sie nicht vielleicht einen zweiten Laden aufmachen sollte, der im Dichterviertel großen Anklang finden könnte.
Auf der Hauptstraße waren ein paar einzelne Wandervögel unterwegs, die dem Morgen danach zu entfliehen versuchten, doch nur wenige Geschäfte waren tatsächlich geöffnet. Zwei Frauen bewunderten die festliche Auslage von Home Sweet Home , doch sie waren schon weitergegangen, bevor Michelle sich richtig in Bewegung gesetzt hatte. Vor dem Buchladen bremste sie ab und starrte durch die trübe Schaufensterscheibe. Ihr Herz raste, während sie ihre schmerzende Oberschenkelmuskulatur dehnte.
Drinnen im Hauptverkaufsraum war alles düster und bedrückend. Überall lagen Bücherstapel herum. Allein schon beim Anblick dieses Durcheinanders wäre Michelle am liebsten dort eingebrochen, um Ordnung zu schaffen. Seit Wochen schon sah es so aus, als würde der Laden dichtgemacht werden. An manchen Tagen war das »Geschlossen«-Schild erst gar nicht umgedreht worden. Michelle hatte ein paar Mal kurz vorbeigeschaut, um Hallo zu sagen, doch mittlerweile war sie jetzt schon seit einer halben Ewigkeit nicht mehr dort gewesen – hauptsächlich, weil Cyril Quentin ein solcher Büchernarr war, dass er einen Nicht-Leser schon aus einer Meile Entfernung erkennen konnte. Er verlieh ihr irgendwie das Gefühl, dumm zu sein. Der Eindruck, den sie bei ihrem letzten Besuch gewonnen hatte, war der einer seltsamen Totenstille, der Michelles Auffassung von der einzigen Aufgabe eines Geschäftes
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