Der Prinz in meinem Maerchen - Roman
Leben zu treten.
Ohne den Blick zu schärfen, starrte sie auf den Zaun, der den Park umgab und bei dem sich die schwarze Farbe in großen Stücken löste und das nackte viktorianische Eisen darunter zum Vorschein kam. Warum war diese Liebe eigentlich nicht in ihr Leben getreten? Wie war sie bloß einunddreißig Jahre alt geworden, hatte geheiratet und fast wieder die Scheidung eingereicht, ohne dabei jemals jene Leidenschaft zu verspüren, bei der man weiche Knie bekam und die selbst eine so altmodische, unscheinbare Figur wie Tory Maxwell erlebt hatte?
Michelle kannte sich jedoch gut genug, um die Antwort darauf zu wissen. Weil sie es nicht zugelassen hatte. Es war doch viel einfacher, sich alles auf Armlänge vom Leib und damit unter Kontrolle zu halten, weil die neue Michelle, jene strahlende, starke Michelle, nicht zu der Sorte Frau gehörte, die zuließ, dass ihr so etwas zustieß – sie war eben das genaue Gegenteil der hoffnungslos romantischen Tory geworden.
Die alte Michelle, die als Mädchen in der Bibliothek gesessen, sich die Schuhe ausgezogen und heimlich gelesen hatte, obwohl sie eigentlich hätte lernen sollen; die Michelle, die gelesen hatte, obwohl sie doch dem guten Rat hätte folgen und nicht an das Glück bis ans Ende ihres Lebens hätte glauben sollen; jene Michelle hatte zugelassen, dass ihr Dinge zustießen – und nicht etwa andersherum.
Ihr Herz zog sich zusammen, als versuchte eine unsichtbare Hand, es auszuquetschen. Ich will geliebt werden, dachte sie in einem plötzlichen Anflug von absoluter Klarheit. Ich will gehalten werden. Ich will , dass ich von jemandem ganz und gar hingerissen bin. Wann war das letzte Mal, dass mich jemand so geküsst hat und ich mich derart gefühlt habe?
Vor dreizehn Jahren. Das letzte Mal, als sie mit ihrem ganzen Körper dieses Lustgefühl verspürt hatte, war dreizehn Jahre her. Mit Ed Pryce.
Michelle beugt wieder den Kopf nach unten und ließ den Schmerz durch sich hindurchfluten, während sie sich am Zaun festhielt und ihr das Herz bis zum Hals schlug. Sie hatte keine Ahnung, woher plötzlich all dieser Schmerz kam, doch ihr ganzer Körper schmerzte ebenso sehr wie ihr Herz, und ihre Brust wurde von quälenden Schluchzern erschüttert, jener Sorte schluckaufartiger Schluchzer, wie Kinder sie oft hatten und die sie schon jahrelang nicht mehr erlebt hatte. Jene Schluchzer, die erst dann aufhören würden, wenn sie von selbst nachließen.
Michelle rückte ein wenig näher an den Zaun heran und versuchte, sich in der in Form geschnittenen Buchshecke unsichtbar zu machen.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«
Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter und wirbelte herum.
Von allen möglichen Longhamptonern stand ausgerechnet Rory direkt hinter ihr, wie immer viel zu nah, begleitet von Tarvish, der nicht angeleint war. Tarvish schien sich zu freuen, sie zu sehen, Rory dagegen eher weniger.
Zu ihrer großen Scham konnte Michelle nicht aufhören zu schluchzen. »Alles bestens«, erklärte sie mit einer Mischung aus Schluckauf und Schluchzern. Hastig versuchte sie, ihr Gesicht vor ihm zu verbergen.
»Nein, offensichtlich nicht.« Er musterte sie von Kopf bis Fuß. »Haben Sie sich verletzt? Haben Sie eine Muskelzerrung?«
»Nein!« Durch ihre Schluchzer war die Antwort beinahe nicht zu verstehen, doch sie konnte nichts dagegen tun. Ihre Brust schmerzte jetzt doppelt so stark dank ihres Weinkrampfs.
»Soll ich es mir einmal anschauen?«, bohrte Rory weiter, als sei er ganz versessen darauf, ihre Verletzung unter die Lupe zu nehmen. »Im Büro bin ich Ersthelfer und habe einen Kurs mitgemacht, bei dem …«
»Lassen Sie mich in Ruhe«, keuchte Michelle. »Bitte!«
Rory trat einen Schritt zurück und schien jetzt erst zu merken, dass sie weinte, anstatt vor Schmerzen zu jammern. Michelle wedelte mit der Hand und hoffte inständig, dass er dies als Aufforderung verstehen würde, endlich weiterzugehen. Eine Sekunde lang glaubte sie tatsächlich, er würde es tun.
Dann kam er wieder näher und legte ihr wieder eine Hand auf die Schulter – und das mit einer Behutsamkeit, dank der sie beinahe wieder losgeheult hätte. »Nichts ist in Ordnung. Bitte lassen Sie sich von mir nach Hause bringen.«
Das war kein Befehl, wie Harvey ihn geäußert hätte. Vielmehr brachte Rory seine Sorge zum Ausdruck, und einen Augenblick lang war Michelle gewillt, sich von Rory wie ein davongelaufener Hund nach Hause führen zu lassen. Dann kratzte sie jedoch die letzten Reste ihrer
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