Der Prinz in meinem Maerchen - Roman
sie stattdessen.
Im Zweifelsfall laufen gehen.
Michelle stellte ihren iPod an, ließ das Haus hinter sich und steuerte den Weg am Kanal entlang an. Langsam kam sie in ihren gewohnten Laufrhythmus, als das Herz in ihrer Brust zu pochen begann. Wenn sie lief, ging es ihr gleich viel besser, und sie bekam das Gefühl, plötzlich vieles klarer zu sehen. Da kam ihr der Gedanke, die Gelegenheit zu nutzen und sich das Hörbuch für Annas und ihr gemeinsames Interview anzuhören. Ohne ihren Lauf zu unterbrechen, klickte sie sich bis zu dem gewünschten Titel durch.
Zu Beginn lauschte Michelle den Worten gar nicht richtig, sondern hoffte, dass sie sich schon von allein in ihrem Unterbewusstsein festsetzen würden. Als sie jedoch den gelb markierten Kanalpfad verließ und das Dichterviertel zum Stadtkern hin durchquerte, fesselte die Geschichte sie immer mehr, und sie war plötzlich mitten drin im Geschehen.
Die Namen der Figuren waren ihr so vertraut wie alte Schulfreunde. Rupert Campbell-Black. Jake Lovell. Helen. Als nach und nach die Charaktere auftauchten und vor ihrem geistigen Auge Form annahmen, wurden bei Michelle immer mehr Erinnerungen an die Schule wach, an die Orte, an denen sie den Roman Reiter von Jilly Cooper zum ersten Mal gelesen hatte. Damals waren die Figuren zum ersten Mal durch ihre Vorstellung flaniert mit ihren Reithosen, den Jack Russell Terriern und den unbarmherzigen Mündern, mit denen sie den Mädchen ihre nach Marlboros schmeckenden Küsse aufzwangen.
Michelle hatte nie auch nur mit einem Gedanken an ihre Vergangenheit zurückgedacht, doch nun sah sie alles wieder in gestochen scharfen Details vor sich.
Die Bibliothek. Plötzlich war die Erinnerung da, die beinahe physische Erinnerung an den kühlen, grünen Geruch der mit Eichenholz vertäfelten Schulbibliothek im Sommer, als sie heimlich ein paar Kapitel gelesen hatte, anstatt den Schulstoff für die Prüfungen zu wiederholen. Sie hatte wieder den übermäßig süßen Duft der Lilien in der Nase, die stets in der Nische über ihrem Sitzplatz standen. In dem Moment, als der Erzähler zärtlich die Flanken von Ruperts Pferd beschrieb, bevor er auf ihn zu sprechen kam, hatte Michelle den Duft wieder in der Nase, und sie wusste genau, wo der Rest ihrer Clique sitzen würde, nämlich ebenfalls an ihren angestammten Plätzen. Nur allzu gut erinnerte sie sich an die verwirrende, aber doch köstlich-delikate Scham, etwas so Aufreizendes und Spannendes in der unmittelbaren Nähe von anderen Menschen zu lesen.
Michelle schüttelte den Kopf und geriet aus dem Tritt. Dabei wäre sie beinahe über ihre eigenen Füße gestolpert, als sie versuchte, wieder zu ihrem gewohnten Rhythmus zu finden.
Jetzt, wo sie dem Hörbuch aufmerksam folgte, kam die Erinnerung doppelt zurück – die Geschichte selbst mit ihren leidenschaftlichen Liebschaften, Irrungen und Wirrungen, sehnsüchtigen Dreiecksbeziehungen und nassgeschwitzten Pferden, ebenso wie die Erinnerung an die erste Lektüre dieses Romans an einem Ort, den sie so weit in die hinterste Ecke ihres Gedächtnisses verbannt hatte, dass sie beinahe schon vergessen hatte, dass dieser Ort real existierte.
Als sie zum Park gelangte, in dem wie immer an diesem frühen Sonntagmorgen keine Menschenseele unterwegs war, hatte der Erzähler die Geschichte unentwegt weitererzählt, sodass es für Michelle kein Entkommen mehr gab. Eine Flut der Emotionen schwappte über sie hinweg – so intensiv, dass sie das Gefühl bekam, beinahe an dem Gewicht ihres eigenen Verlangens zu ersticken.
Ich wollte auch so geliebt werden , dachte sie. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass es so sein würde, erwachsen zu sein. Aber so ist es nicht. Ganz und gar nicht.
Taumelnd kam sie zum Stehen und hielt sich an der Mauerbrüstung fest. Schnell tat sie, als müsse sie ihre Oberschenkelmuskeln dehnen, doch in Wirklichkeit beugte sie sich vor, um gegen ihre Tränen anzukämpfen. Sie riss sich die Kopfhörer aus den Ohren, aber die Stimme fuhr unerbittlich in ihrem Kopf fort. Michelle konnte sich mit einem Mal wieder daran erinnern, wie die Geschichte ausging, und in ihrer Brust schabte und scharrte etwas vor Sehnsucht nach einem ähnlichen Happy End wie diesem.
Früher einmal hatte sie ernsthaft geglaubt, das Glück warte an der nächsten Straßenecke auf sie. Michelle konnte sich noch gut daran erinnern, wie sie in der Bibliothek gesessen und geglaubt hatte, dass jene fröhliche, ungezwungene, heftige Liebe kurz davor war, in ihr
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