Der Prinz in meinem Maerchen - Roman
nicht mehr erinnern.
Michelle schloss das Notizbuch. Tränen liefen ihr über das Gesicht, sodass alles vor ihren Augen verschwamm.
»Was ist passiert?«, fragte Rory sanft.
»Jemand hat mich während einer Party vergewaltigt«, flüsterte Michelle. »Ich habe nie irgendwem davon erzählt, weil es sonst real geworden wäre. Außerdem hätte mir ohnehin niemand geglaubt, weil alle anderen auch Sex hatten. Ein paar von uns wurden geschnappt, und es war schnell klar, dass es um Sex gegangen war und Alkohol und ein paar andere Drogen im Spiel gewesen waren. In der Zeitung wurde es nur als eine öffentliche Schulorgie beschrieben, ohne dass die Namen der Beteiligten genannt wurden. Meinen Eltern habe ich nichts erzählt, weil es schon schlimm genug war, an einem Alkoholgelage teilgenommen zu haben und von der Schule geworfen zu werden. Ich gehörte nämlich eigentlich nicht zu diesen Mädchen, die so etwas taten, ganz zu schweigen von dem Rest, der passiert ist. Ich wollte das alles einfach nur vergessen.« Sie schluckte. »Weil ich nicht zulassen wollte, dass eine einzige Nacht über den Rest meines Lebens bestimmte. Ich wollte ein neues Leben beginnen. Einen Neuanfang wagen.«
»Aber du hättest eine Therapie machen können!«
»Das habe ich auch, zumindest eine gewisse Zeitlang. Aber ich fand es einfacher, so zu tun, als sei nichts passiert.«
»Was ist mit dem Jungen geschehen?« Rory schien wütend zu sein – eine Reaktion, mit der Michelle nicht gerechnet hatte. »Du hättest ihn deswegen anzeigen müssen!«
Sie schüttelte den Kopf.
»Natürlich!«
»Er war ein Junge! Ein dummer Teenager, mit dem ich zuvor herumgeknutscht hatte. Er gehörte zu den beliebtesten Jungs. Was hätte ich denn da sagen sollen? Dass ich eine dumme Göre war, der seine Aufmerksamkeit geschmeichelt hat, die dann aber keinen Sex mit ihm haben wollte?«
Das hatte sie gar nicht ins Tagebuch geschrieben, fiel Michelle auf. Selbst im Nachhinein hatte sie gewisse Dinge ausgeblendet. Weder hatte sie notiert, dass sie Anthony geküsst hatte, noch Daniel. So sehr hatte sie die Aufmerksamkeit der Jungs überwältigt. Sie war eine unzuverlässige Erzählerin.
»Dieses Mädchen wollte ich nicht sein«, fuhr Michelle fort. »Andererseits konnte ich aber auch nicht mehr die Oberstufenschülerin sein, die ich sein sollte. Deswegen bin ich nach Hause gefahren und habe eine Zeitlang als Dads Verkäuferin gearbeitet. Dann wurde ich mit Harvey verkuppelt, der gemerkt haben musste, dass er mich ganz leicht zu dem machen konnte, was er haben wollte. Ich ließ ihn gewähren. Während der Jahre hat er mich aber immer wieder daran erinnert, dass ich eines jener Mädchen sei, das völlig betrunken jeden ranließ. Dass man mir trotz allem nicht vertrauen könne.«
Rory schwieg, nahm ihr aber das Tagebuch aus der Hand, schnürte die Lederriemen fest zu und schleuderte es durch das Zimmer. Danach legte er seine Arme um Michelle und hielt sie fest umschlungen, während sie an seiner Schulter vergraben weinte, bis ihr perfekt gezogener Lidstrich über ihr ganzes Gesicht verschmiert war.
Rory küsste sie nicht, hielt sie aber fest und hörte zu, wie die Scham nach so vielen Jahren aus ihr hervorsprudelte. Als er ihr dann mit seiner sanften schottischen Stimme sagte, dass alles gut werden würde, dass sie tapfer, klug und schön und eine tolle Frau sei, konnte sie ihm beinahe glauben.
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» Matilda ist richtig, richtig klug, aber ihre Eltern sind ziemlich dumm und wissen nicht, dass sie magische Fähigkeiten hat. Außerdem ist ihre Schuldirektorin total gemein zu ihr! Ein tolles Buch – volle Punktzahl von mir!«
Lily McQueen
A ls der November immer dunkler und verregneter wurde und die Weihnachtsbeleuchtung zwischen den Straßenlaternen montiert wurde, fiel Anna auf, dass der nächtliche Einzug von Bettwäsche offenbar aufgehört hatte. Allerdings sprach sie Michelle nicht darauf an, sondern ging einfach davon aus, dass dies die letzte Galgenfrist vor dem neuen Jahr war, bevor es mit dem Buchladen zu Ende ging. Außerdem hätte sie Michelle auch gar nicht fragen wollen. Die allmorgendliche Flucht in die Buchhandlung war das Einzige, worauf sie sich noch freute.
Sarahs Geburtstermin näherte sich mit großen Schritten, und die andauernden Skypeübertragungen zwischen Becca und Sarah, bei denen sie ihre Babybäuche und Schwangerschaftsstreifen miteinander verglichen, wurden immer unerträglicher, obwohl Anna für die Kamera stets ein Lächeln aufsetzte.
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