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Der Prinz von Atrithau

Der Prinz von Atrithau

Titel: Der Prinz von Atrithau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R. Scott Bakker
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dass Händchenhalten eine Unschicklichkeit darstellte.
    Oder würden sie Kellhus entdecken?
    Ein Geräusch ließ ihn nach oben sehen, und er schrie vor Entsetzen beinahe auf.
    Eine nackte Leiche war an die Äste des Baums genagelt. Ihre Haut war violett und mit blauen und grünen Flecken marmoriert. Nachdem sein Schrecken sich gelegt hatte, überlegte er, den Mann abzunehmen, aber wo sollte er ihn hinbringen? Ins nächste Dorf? Die Shigeki hatten solche Angst vor den Inrithi, dass sie den Toten kaum ansehen, geschweige denn begraben würden.
    Plötzlich überkamen ihn Gewissensbisse, und er dachte unerklärlicherweise an Esmenet.
    Achamian führte sein Maultier an den Kindern vorbei durch den mit Sonnenflecken gesprenkelten Schatten weiter gen Iothiah, der alten Hauptstadt der Gottkönige von Shigek, deren Mauern sich in der Ferne erstreckten und hier und da durch die dunklen Eukalyptuszweige flüchtig zu erkennen waren. Und wie zuvor schlug er sich mit Unmöglichkeiten herum.
    Die Vergangenheit war tot, und die Zukunft war so schwarz wie ein offenes Grab.
    Achamian strich sich Tränen von den Wangen. Etwas Unvorstellbares, über das sich Historiker, Philosophen und Theologen noch Jahrtausende lang streiten würden, stand bevor – falls es dann noch Historiker, Philosophen und Theologen gab. Und die Taten von Drusas Achamian würden dabei eine enorme Rolle spielen.
    Er würde einfach geben. Ohne Erwartung.
    Seinen Orden. Seine Berufung. Sein Leben.
    Die Gnosis würde sein Opfer sein.
    Hinter mächtigen Mauern, die wie Vorhänge wirkten, lag ein Gewirr bruchlos ineinander übergehender, vierstöckiger Gebäude aus Lehmziegeln. Die Gassen von Iothiah waren eng und von Markisen aus Palmwedeln beschirmt, was Achamian das Gefühl gab, durch Tunnel zu streifen. Den Kerathoten ging er aus dem Weg, denn ihr triumphierender Blick gefiel ihm nicht, doch wenn er bewaffneten Männern des Stoßzahns begegnete, fragte er sich durch und suchte sich dann erneut seinen Weg durch eine Unzahl von Gassen. Dass die meisten Inrithi hier Ainoni waren, beunruhigte ihn. Und ein-, zweimal, als die Mauern sich weit genug öffneten, um die Prachtbauten der Stadt zu erkennen, glaubte er, die Scharlachspitzen von Ferne spüren zu können.
    Dann aber traf er auf einen Reitertrupp der Norsirai und war einigermaßen erleichtert. Sie seien Galeoth und wüssten, wie man zur Sareotischen Bibliothek komme. Ja, die Bibliothek sei in Händen der Galeoth. Achamian log wie stets und erzählte ihnen, er sei Gelehrter und gekommen, die Heldentaten des Heiligen Kriegs aufzuzeichnen. Wie immer leuchteten die Augen seiner Gesprächspartner bei dem Gedanken auf, in den Geschichtsbüchern flüchtig Erwähnung zu finden. Sie wiesen ihn an, ihnen zu folgen, und meinten, sie kämen auf dem Weg zu ihrem Quartier ohnehin an der Büchersammlung vorbei.
    Mittags stand er nervös wie nie im Schatten der Bibliothek.
    Wenn Gerüchte über die Existenz gnostischer Texte bis zu ihm gedrungen waren, hatten sie die Scharlachspitzen dann nicht auch erreicht? Der Gedanke, sich mit den Ordensmännern in Rot um Schriftrollen balgen zu müssen, erfüllte ihn mit einigem Schrecken.
    »Was hältst du davon?«, fragte er Tagesanbruch. Sein Maultier schnaubte nur und stieß ihm die Nase in die Hand.
    Die Vorstellung, gnostische Schriften könnten die ganze Zeit hier im Verborgenen gelegen haben, war nicht so absurd, wie man hätte denken können. Die Bibliothek war so alt wie die Tausend Tempel. Die Sareoten – ein Kollegium esoterischer Priester, das der Bewahrung von Wissen verschrieben war – hatten sie erbaut und unterhalten. Während des Ceneischen Reichs war es in Iothiah eine Zeit lang Gesetz gewesen, dass alle, die mit einem Buch die Stadt betraten, es den Sareoten geben mussten, damit es abgeschrieben werden konnte. Das Problem war, dass dieses Kollegium eine religiöse Einrichtung war und es daher den Wenigen naturgemäß verboten war, die berühmte Bibliothek zu betreten.
    Als die Sareoten viele Jahrhunderte später beim Fall Shigeks von den Fanim niedergemetzelt wurden, soll der Padirajah persönlich die Bibliothek betreten haben. Die Legende besagt, er habe aus seiner Weste ein schmales, in Leder gebundenes Exemplar des Kipfa’aifan, der Offenbarungen des Propheten Fane, gezogen, das die gebogene Form seiner Brust angenommen hatte, und habe das Buch in die luftige Düsternis gereckt und erklärt: »Hier drin steht alle geschriebene Wahrheit. Das ist der einzige Pfad

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