Der Prinz von Atrithau
solch eine Sammlung gesehen. Nie war er so vielen vergessenen Gedanken begegnet.
Tausende Bücher und abertausende Schriftrollen lagerten hier, doch er glaubte kaum, dass mehr als ein paar hundert davon gerettet werden konnten. Er fand nicht den leisesten Hinweis auf die Gnosis, aber dennoch manches sehr Interessante.
Er entdeckte ein Buch des Ajencis, das er nie gesehen hatte und das leider in Vaparsisch verfasst war, einer alten Sprache der Leute aus Nilnamesh, die er kaum beherrschte, so dass er nur den Titel entziffern konnte: Vierter Dialog über die Bewegungen der Planeten in Abhängigkeit von… diesem oder jenem. Dass es sich hier jedoch um einen Dialog handelte, machte das Werk überaus wichtig, denn nur sehr wenige Dialoge des großen Philosophen von Kyranae waren erhalten geblieben.
Er entdeckte einen Stapel in der Keilschrift des alten Shigek abgefasster, von staubigen Spinnweben eingehüllter Lehmtafeln. Er zog eine hervor, die in gutem Zustand schien, und beschloss, sie aus der Bibliothek zu schmuggeln, obwohl darauf vermutlich nur Bestände der Kornkammern verzeichnet waren. Xinemus wird sich darüber sicher freuen, dachte er.
Und er entdeckte weitere Wälzer und Schriftrollen – meist Kuriositäten: eine Darstellung des Zeitalters der Städtekriege von einem Historiker, auf den er noch nie gestoßen war; ein seltsames Pergamentbuch mit dem Titel Über die Tempel und ihre Freveltaten, das ihn grübeln ließ, ob die Sareoten ketzerische Neigungen gehabt haben mochten, und manches mehr.
Allmählich legte sich seine Begeisterung über unversehrte wie seine Entrüstung über zerstörte Texte. Müde geworden, zog er sich auf eine Steinbank in einer Nische zurück und stellte seine Entdeckungen und bescheidenen Habseligkeiten wie Totems in einem magischen Kreis um sich herum, aß etwas altbackenes Brot und trank Wein aus seinem Schlauch. Dabei dachte er an Esmenet und verübelte sich seine plötzliche Sehnsucht.
Er gab sich alle Mühe, nicht an Kellhus zu denken, ersetzte seine verlöschende Kerze und beschloss zu lesen. Schon wieder mit Büchern allein, dachte er und musste lächeln. Schon wieder? Endlich!
Ein Buch wird nie »gelesen«. Hier wie überall sonst verzerrt die Sprache den wahren Charakter der Handlung. Wer sagt, ein Buch werde gelesen, macht den gleichen Fehler wie ein Spieler, der mit seinem Gewinn angibt, als habe er ihn gewaltsam, mit seiner Hände Arbeit oder willentlich erlangt. Wer Zahlenstäbe wirft, packt nur den Augenblick beim Schopf. Ein Buch zu öffnen, ist dagegen ein weit ernsteres Spiel, denn es bedeutet nicht allein, den Augenblick zu fassen, sondern auch, sich eine Weile der oft überraschenden Spur einer fremden Feder anzuvertrauen und sich von ihr gleichsam inwendig beschreiben zu lassen. Wer ein Buch liest, unterwirft sich eine Zeit lang den Seelenbewegungen eines anderen.
Achamian kannte keine tiefere Selbstvergessenheit als diese.
Er versank in der Lektüre. Tausend Jahre alter Spott ließ ihn in sich hineinlachen, während Behauptungen und Hoffnungen, die längst keine Bedeutung mehr hatten, ihn nachdenklich machten.
Er wusste nicht, wann er eingeschlafen war.
Er träumte von einem Drachen, der alt, grau, schrecklich und unvergleichlich grausam war. Skuthulas Glieder schienen aus Eisen, und seine schwarzen Flügel waren so groß, dass sie im Sinkflug den halben Himmel verdeckten. Der grelle Feuerstoß aus seinem Maul war so gewaltig, dass sich der Sand um seinen Abwehrzauber herum in Glas verwandelte. Und Seswatha fiel aufs Knie und schmeckte Blut, doch der Kopf des alten Hexenmeisters wurde zurückgeworfen, und sein weißes Haar wurde vom Wind der Drachenflügel gepeitscht, und die unmöglichen Worte donnerten wie Gelächter aus dem weiß glühenden Mund des Untiers. Stechendes Licht erfüllte den Himmel…
Aber die Ränder der Szene wirkten knitterig, und plötzlich knüllte sich das Bild – wie ein auf Pergament gemalter Traum – zusammen und wurde in die Finsternis geschleudert…
In eine Finsternis bei offenen Augen. Achamian keuchte. Wo war er? Ach ja, in der Bibliothek. Die Kerze musste erloschen sein.
Dann begriff er, was ihn geweckt hatte: sein Abwehrzauber, den er ununterbrochen aufrecht erhielt, seit er sich dem Heiligen Krieg angeschlossen hatte.
Gütiger Sejenus – die Scharlachspitzen!
Schnell, schnell packte er in der Dunkelheit seinen Rucksack zusammen, erhob sich und starrte mit anderen Augen in die Finsternis.
Der Raum war
Weitere Kostenlose Bücher