Der Prinz von Atrithau
dachte Kellhus, er wäre zu spät gekommen, doch dann trug der Wind ihm heisere Rufe zu, und er sah eine Gestalt in der Brandung. Er ging am Zelt des Scylvendi vorbei ans Wasser und spürte dabei Muscheln und Kies unter den Sandalen knirschen. Das Mondlicht ließ die rollenden Wellen silbern wirken. Möwen kreischten und hingen wie Papierdrachen im Nachtwind.
Kellhus sah zu, wie die Wellen auf den nackten Scylvendi einschlugen.
»Es gibt keine Wege!«, schrie Cnaiür und hieb mit der Faust auf die Brandung ein. »Wo sind die…«
Unvermittelt erstarrte er. Eine dunkle Welle begrub ihn fast unter sich und brandete unter Gischt an den Strand. Er blickte sich um, und Kellhus sah sein wettergegerbtes Gesicht zwischen langen Strähnen nassen Haars. Seine Miene war ausdruckslos.
Völlig ausdruckslos.
Cnaiür watete auf den Strand zurück. Gischt umgab ihn wie Rauch.
»Ich habe alles getan, was du wolltest!«, schrie er über die Brandung hinweg. »Ich habe meinen Vater bloßgestellt und ihn so gezwungen, mit dir zu kämpfen. Ich habe ihn, meinen Stamm und alle Scylvendi verraten…«
Kellhus blendete das Meeresrauschen aus und konzentrierte sich ganz auf den näher kommenden Barbaren. Cnaiürs Puls war ruhig, seine Haut schwach durchblutet, seine Züge schlaff.
Und seine Augen waren tot.
Da begriff Kellhus, dass er Cnaiür nicht durchschauen konnte.
»Ich bin dir durch die weglose Steppe gefolgt.«
Nackte Füße auf nassem Sand. Der Utemot blieb vor ihm stehen. Seine große Gestalt glänzte im Mondlicht wie emailliert.
»Ich habe dich geliebt.«
Kellhus langte nach hinten, zog sein Dûnyain-Schwert und richtete es auf Cnaiür. »Knie nieder! «, befahl er.
Der Scylvendi fiel auf die Knie, streckte die Arme aus und zog die Finger durch den Sand. Dann bog er das Gesicht zu den Sternen hinauf und bot Kellhus die nackte Kehle dar. Hinter ihm brandete das Meer schäumend an den Strand.
Kellhus stand reglos da.
Was ist das, Vater? Mitleid?
Er starrte auf den unterwürfigen Scylvendi. Aus welcher Dunkelheit war diese Leidenschaft gekommen?
»Stich zu!«, rief Cnaiür, und sein großer, narbiger Körper zitterte vor Angst und Jubel.
Doch noch immer konnte Kellhus sich nicht rühren.
»Töte mich!«, brüllte Cnaiür dem Nachthimmel entgegen, griff erschreckend rasch nach Kellhus’ Klinge und setzte sie sich an die Kehle. »Töte mich!«
»Nein«, sagte der Dûnyain. Eine Welle brandete an den Strand, und der Wind peitschte ihnen die Gischt ins Gesicht.
Er beugte sich vor und befreite die Klinge sanft aus Cnaiürs festem Griff.
Mit einem jähen Ruck packte der Utemot den Kopf des Dûnyain an beiden Seiten und warf Kellhus in den kalten Sand.
Der Dûnyain blieb reglos. Ob zufällig oder intuitiv: Der Barbar hatte ihn so in den Schwitzkasten genommen, dass er ihm mit dem kleinsten Ruck das Genick brechen konnte.
»Ich habe dich geliebt!«, flüsterte und schrie er zugleich. Dann stieß er Kellhus so weg, dass der Dûnyain beinahe auf den Beinen gelandet wäre. Vorsichtig geworden, schob Kellhus das Kinn vor und zur Seite, um die Halsmuskulatur zu entkrampfen. Cnaiür starrte ihn so hoffnungsvoll wie panisch an.
Kellhus steckte sein Schwert wieder in die Scheide.
Der Scylvendi taumelte zurück, hob die Hände und riss sich die Haare büschelweise vom Kopf.
»Aber du hast es gesagt! «, schäumte er und streckte ihm sein blutiges Haar entgegen. »Du hast es gesagt!«
Kellhus beobachtete ihn völlig ungerührt und begriff, dass er noch Verwendung für Cnaiür hatte.
Verwendung fand sich immer.
Das Wesen namens Sarcellus folgte einem schmalen Pfad, der in Ufernähe durch die Felder führte. Trotz hoher Luftfeuchtigkeit war die Nacht klar, und der Mond ließ die Umrisse der Eukalyptusbäume und Platanen blau schimmern. Sarcellus zügelte sein Pferd, als er die ersten Ruinen erreichte, und lenkte es durch eine Säulenallee, die aus grasigen Hügeln aufragte. Jenseits der Säulen lag der Sempis so still da wie ein See und spiegelte den weißen Mond und die Schattenlinie des nördlichen Steilhangs wider. Sarcellus saß ab.
Dieser Ort hatte einmal zu der alten Stadt Girgilioth gehört, doch das bedeutete ihm nichts. Er war ein Wesen des Moments. Ihm kam es nur darauf an, dass es sich hier um einen markanten Punkt im Gelände handelte, und solche Punkte waren für Kundschafter ideal, um sich mit ihren Auftraggebern zu beraten – seien die nun menschlich oder nicht.
Sarcellus saß mit dem Rücken an eine
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